Der türkische Faschismus ist für viele Jugendliche in Österreich und Deutschland attraktiv. Verantwortlich dafür ist auch der Rassismus der Mehrheitsgesellschaft.

Es sind Tausende, die im Juli 2024 beim EM-Spiel der Türkei gegen die Niederlande den faschistischen Wolfsgruß zeigen. Auf der Ehrentribüne im Berliner Olympiastadion: Der rechte türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Direkt hinter ihm der ehemalige deutsche Nationalspieler Mesut Özil –ein bekennender Anhänger der Grauen Wölfe. Özil hat sich das Logo der faschistischen Organisation samt Wolf sogar auf die linke Brust tätowieren lassen. Ein Foto davon postet er eigens auf Instagram.

Bei Public Viewings in vielen Städten zeigen zahlreiche türkische Fans ebenfalls den Wolfsgruß, unter anderem auch in Wien. In sozialen Netzwerken wie Insta, Tiktok oder Twitter/X wird das Wolfs-Emoji rauf- und runtergepostet. Unter denen, die diese Symbole zeigen, sind sehr viele sehr junge Menschen – sie wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit in Österreich und Deutschland geboren.

Demo gegen Wölfe und Faschismus in Wien-Favoriten im Juni 2020. Bild: Michael Bonvalot

Was ist da los? Entsteht hier eine faschistische Massenbewegung? Und wieviel Verantwortung hat der Rassismus der Mehrheitsgesellschaft?

Ich habe selbst als Sozialarbeiter in Wien über viele Jahre mit Jugendlichen mit Migrationsbiografie gearbeitet. Darunter auch mit jugendlichen Anhänger:innen der Grauen Wölfe. Und in der Praxis zeigt sich: Die ganze Geschichte ist doch etwas komplexer.

Wer sind die Wölfe überhaupt?

Selbst nennen sie sich die Wölfe die „Idealisten“, auf Türkisch Ülkücüler. Und sie sind eine der größten und brutalsten faschistischen Bewegungen nach 1945. Die Geschichte der Organisation beginnt im Jahr 1964. Damals gründet der ehemalige Oberst Alparslan Türkeş mit seinen Gefolgsleuten die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). In den folgenden Jahren wird Türkeş als neuer Führer (Başbuğ) aus der MHP eine faschistische Massenpartei mit gefährlichen Todesschwadronen formen.

In Europa ist die Partei besser bekannt unter dem Namen dieser Todesschwadronen: Bozkurt, die Grauen Wölfe. Diese paramilitärischen Verbände ermorden in den nächsten Jahrzehnten tausende Menschen – vor allem Linke, Kurd:innen und Angehörige der liberalen alevitischen Glaubensgemeinschaft.

Morde, Drogenhandel, Erdoğan

Parallel dazu spielen die Wölfe bald eine führende Rolle im weltweiten Drogenhandel, so dürfte es etwa gute Verbindungen zum mexikanischen Sinaloa-Kartell geben. Hier habe ich ein Video veröffentlicht, wo Wölfe das Kartell grüßen.

Inzwischen ist die MHP der Juniorpartner von Erdoğans AKP, gemeinsam führen sie die Regierung der Türkei. Vor allem in der Diaspora ist inzwischen dabei ein nationalistisches Mischmilieu entstanden. So habe ich etwa bei tagelangen Angriffen von jungen Wölfen auf Linke und Kurd:innen im Juni 2020 in Wien Gruppen beobachtet, die gleichzeitig den Wolfsgruß zeigten und Parolen für Autokrat Erdoğan brüllten. Mehr über die Geschichte der Wölfe habe ich hier für euch aufgeschrieben.

Doch warum ist diese Organisation auch unter jungen Menschen in Österreich und Deutschland augenscheinlich so populär?

„Köksüz“ heißt „wurzellos“

Egal, ob es in der Schule ist, bei rassistischen Polizeikontrollen, am Arbeitsplatz oder bei der Wohnungssuche: Menschen mit türkischer Migrationsbiografie wachsen in Österreich und Deutschland mit permanenten Erfahrungen der Benachteiligung auf. Dabei ist es völlig egal, wo sie geboren sind. Und es ist auch völlig egal, falls sie bereits seit Jahrzehnten oder gar seit ihrer Geburt die österreichische oder deutsche Staatsbürger:innenschaft haben. Die Mehrheitsgesellschaft behandelt sie in rassistischem Überlegenheitsdenken dennoch als „die Anderen“.

In der Türkei sind diese Menschen aber auch nicht wirklich zu Hause. Sie sind in Wien, Berlin und Zürich aufgewachsen, das ist ihre Heimat. Viele dieser Menschen sprechen auch nicht wahnsinnig gut türkisch, die Klangfärbung ihrer Sprache ist Deutsch. Wer schon einmal in der Türkei war und genau hinhört, kann den Unterschied erkennen. In der Türkei sind sie die „Almancılar“, die Deutsch-Türk:innen, oft werden sie wegen ihrer fehlenden Sprachkenntnisse belächelt.

Mitte der 1990er Jahre erschien in Deutschland die Zeitschrift „Köxüz“, eine Zeitschrift von linken Aktivistinnen mit Migrationsbiografie. Der Name der Zeitschrift bezog sich auf das türkische Wort „köksüz“ – wurzellos. Es beschreibt das Phänomen sehr gut.

„Sie kommen nicht durch“ – Aufkleber gegen die Grauen Wölfe in Wien.

Die Macher:innen der Zeitschrift wollten den Begriff dabei gleichzeitig positiv besetzen. In ihrem Selbstverständnis schrieben sie „Mit dem Namen ‚Wurzellos‘ wollten wir eine Sichtweise in den Mittelpunkt stellen, die sich gegen jede Art von Herrschaftsform stellt.“

Nationalismus aus der Ferne

Wer allerdings im Alltag permanente Benachteiligungen erlebt, sucht sich oft irgendetwas, auf das er oder sie stolz sein kann. Eine ferne und mythische Nation, wo es keine Benachteiligungen gibt, ist da außerordentlich gut geeignet. Jugendarbeit und Wissenschaft kennen dieses Phänomen als „Nationalismus aus der Ferne“ („long distance nationalism“). Es ist die Imagination eines fernen Vaterlandes als positiv aufgeladenes Gegenstück zu den erniedrigenden Erfahrungen des Alltags. Und genau hier setzen die Wölfe und andere Nationalist:innen an.

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Ich selbst war als Kind in Wien ein sehr stolzer kleiner Franzose. Benachteiligungen im Alltag habe ich niemals erlebt, doch mein Vater war Franzose. Tatsächlich war ich noch niemals in Frankreich gewesen, ich konnte auch kein Wort Französisch. Doch irgendwie fand ich es als Kind gut, mich besonders zu fühlen. Kinder mögen das. Und noch viel mehr mögen es Kinder, die im Alltag laufend Benachteiligungen erleben.

Von Yozgat nach Wien

Doch auch bei Menschen und Personengruppen, die Rassismus erfahren, spielen weitere Einflüsse eine Rolle. Machen wir es konkret am Beispiel Wien fest: Türkeibezogene Migration in die österreichische Bundeshauptstadt erfolgte vielfach aus der Region Yozgat – einer traditionellen Hochburg der türkisch-nationalistischen Rechten im bäuerlich geprägten Zentralanatolien.

Selbstverständlich haben die Menschen, die im Lauf der Zeit nach Österreich gezogen sind, ihre politischen Überzeugungen nicht am Grenzbalken abgegeben. Und wir wissen, dass gerade grundlegende Werthaltungen biografisch oft über Generationen weitergegeben werden. Genauso, wie es in österreichischen und deutschen Familien der Fall ist.

Der Rassismus der Mehrheitsgesellschaft hilft den Wölfen

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Der Historiker Davide Cantoni hat vor einigen Jahren eine höchst interessante Studie gemacht. Er hat sich die Wahlergebnisse aller 11.000 Gemeinden in Deutschland angesehen. Das Ergebnis fasst Cantoni so zusammen: „Wo die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD“. Für Österreich gibt es leider keine vergleichbaren Studien, doch die Ergebnisse wären in Bezug auf die FPÖ vermutlich sehr ähnlich.

Der Historiker erklärt gegenüber der Zeit auch, warum sich solche Einstellungen über Jahrzehnte hinweg erhalten können: „Politische Traditionen werden dann eher weitergegeben, wenn sich Menschen in einer Community bewegen, in der sie relativ wenig Kontakt zu anderen Leuten, anderen Denkweisen, anderen Lebensstilen haben. Deshalb sehen wir solche Kontinuität in der politischen Denkweise häufiger und stärker in kleineren Ortschaften im ländlichen Raum als in großen Städten.“

Diese Beschreibung passt letztlich auch sehr gut auf migrantische Milieus. Hier müsste allerdings noch hinzugefügt werden: Der Rassismus der Mehrheitsgesellschaft verstärkt das Phänomen der Abgeschiedenheit nochmals enorm.

Eine Erklärung, keine Entschuldigung

Gleichzeitig sind solche Phänomene natürlich nie nur eindimensional. So betont die Erklärung des „Nationalismus aus der Ferne“ meist vor allem die Opferperspektive. Doch gerade im Fall des türkischen Nationalismus gibt es auch eine eindeutige Täter:innenperspektive. Sie reicht vom millionenfachen (und bis heute oft geleugneten) Völkermord an der armenischen, aramäischen und griechischen Minderheit im Ersten Weltkrieg bis zur aktuellen Unterdrückung der kurdischen Bevölkerungsgruppe.

Auch die Völkermorde sind keine Frage der Vergangenheit. Das zeigte etwa der Krieg rund um die Region Bergkarabach zwischen Aserbaidschan und Armenien im Sommer 2020. Aserbaidschan ist turksprachig und eng mit der Türkei verbündet. In der ostfranzösischen Stadt Dijon machen während des Konflikts Anhänger der Wölfe Jagd auf Armenier:innen. Und in Deutschland wurden armenische Familien mit dem Tod bedroht, berichtet damals das ZDF.  Es ist eine bewusste Entscheidung, sich auf die Seite der Täter:innen zu stellen.

Wer zeigt den Wolfsgruß?

Die türkische Plattform „Hareket Haber“ veröffentlicht im Dezember 2020 auf Twitter/X ein Foto, das einen General aus Aserbaidschan zeigen soll, der den Wolfsgruß präsentiert. Doch wer heute gerade in Österreich und Deutschland den Wolfsgruß zeigt, muss nicht automatisch ein politischer Kader sein.

Und mit Sicherheit kann vor allem bei Jugendlichen nicht von einem gefestigten politischen Weltbild ausgegangen werden. Wir sollten aber gleichzeitig nicht relativieren, sondern die politischen Selbstzuschreibungen von Menschen ernst nehmen.

Bei jungen Linken würde ja auch niemand auf die Idee kommen, ihnen ihre politischen Überzeugungen abzusprechen. Und wir sollten uns nicht täuschen lassen: Es konnten vermutlich auch nicht alle freiwilligen Mitglieder der HJ das gesamte Parteiprogramm der NSDAP referieren. Das macht sie aber um nichts weniger gefährlich.

„Alle abschieben?“

Nach Manifestationen der Grauen Wölfe im deutschsprachigen Raum ertönt im Blätterwald gerne die Forderung nach Abschiebungen. Doch wo ist da der Unterschied zum Überlegenheitsdenken der extremen Rechten? Wer darf entscheiden, wer für welche politischen Positionen abgeschoben wird? Wie ist das dann mit den Wähler:innen der FPÖ, der AfD und der SVP in der Schweiz? Wohin werden die abgeschoben?

Demo gegen die Grauen Wölfe im Juni 2020 in Wien. Bild: Michael Bonvalot

Und über wie viele Generationen hinweg muss jemand in Österreich, Deutschland oder der Schweiz leben, damit die Person nicht mehr abgeschoben werden kann? Ist die Staatsbürger:innenschaft dabei egal? Entscheidet das nur die „arische“ Urbevölkerung? Wer entscheidet, wer arisch genug ist? Vielleicht mit einer Art Nachweis? Hatten wir schon mal.

Rassismus gegen Rassismus? Das wird nicht funktionieren.

Tatsächlich ist der Nationalismus innerhalb der türkischen Minderheit ein politisches Phänomen. Er muss politisch angegangen werden, nicht rassistisch. Die besten Verbündeten dabei sind fortschrittlichen Kräfte innerhalb der Community. Gleichzeitig wäre es naiv, zu glauben, dass ausschließlich „Aufklärung“ oder „mehr Bildung“ zum Erfolg führen. Denn oft geht es eben um politische Wertvorstellungen, die seit Generationen weitergegeben werden.

Hier kann die Studie über die Wahlergebnisse in Deutschland von der NSDAP zur AfD als deutliches Beispiel dienen. Das ist ein langer und zäher politischer Kampf um die Herzen und Hirne. Was dabei sicher ist: Mit rassistischen Phrasen wird er sicher nicht gelingen. Im Gegenteil, der Rassismus ist tatsächlich Wasser auf die Mühlen der Wölfe und der nationalistischen Rechten.

In ihrer Agitation können sie dann genau darauf verweisen: „Hier bist du ohnehin nicht willkommen, sei stattdessen ein stolzer Türke.“ Der Rassismus der Mehrheitsgesellschaft ist damit nicht mehr als ein Geschenk für die Wölfe und den Faschismus.

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