In Teilen der europäischen Linken wird der Wahlkampf von Jean-Luc Mélenchon als Vorbild gehandelt. Doch ist das gerechtfertigt?

Am Schluss hat es doch nicht gereicht. Doch mit einer beeindruckenden Aufholjagd konnte Jean-Luc Mélenchon den ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen nochmals spannend machen. Dennoch werden der Sozialdemokrat Emmanuel Macron und die Rechtsextreme Marine Le Pen werden die Stichwahl um die französische Präsidentschaft bestreiten.

Alle Umfragen deuten darauf hin, dass Macron diese Stichwahl souverän gewinnen wird. Während des Wahlkampfes konnte mit Jean-Luc Mélenchon aber vor allem ein Überraschungskandidat für Aufsehen sorgen.

Auf einmal waren es vier

Sah es am Anfang nach einem Dreikampf zwischen Macron, dem konservativen François Fillon und Marine Le Pen aus, konnte sich im Verlauf des Wahlkampfes der linke Jean-Luc Mélenchon immer mehr nach vorne schieben. Schließlich hat er mit 19,6% ein sehr achtbares Ergebnis erzielt.

Teile der europäischen Linken jubelten im Wahlkampf der Strategie von Mélenchon zu. Der ehemalige Sozialdemokrat und nunmehrige Spitzenkandidat der Linksbewegung „La France insoumise“ (je nach Übersetzung: Das freie/widerständige/unbeugsame Frankreich) hätte die traditionelle Linke hinter sich gelassen und damit neue WählerInnenschichten erschlossen. Dies sei ein Modell für andere Kandidaturen.

Massenmobilisierung

Während des Wahlkampfes konnten Mélenchon und La France insoumise tatsächlich einen enormen Hype entfachen. Weit über hunderttausend Menschen kamen insgesamt zu den Wahlkundgebungen mit Mélenchon.

Einer der Höhepunkte war eine Massenkundgebung bei der Pariser Bastille am 18. März, an der allein mehrere zehntausend Menschen teilgenommen haben. (Laut den Organisatoren waren es 130.000, wobei in Frankreich gerne ein bisschen mehr draufgelegt wird. Die Polizei gab keine Schätzung ab.)

Jenseits der Linken?

Traditionelle linke Symbole wie rote Fahnen und das Singen der „Internationale“ seien auf den Kundgebungen von La France insoumise allerdings eher verpönt, berichten internationale Medien. Dies sei ein Merkmal seines Wahlkampfes. Ob das komplett eingehalten wird, ist allerdings zu bezweifeln.

Dieses Video von der Massenkundgebung am 18.03.2017 zeigt jedenfalls neben den blau-weiß-roten Nationalfahnen auch rote Fahnen. Hier mag es sein, dass manche internationale UnterstützerInnen sich also auch passende Wahrheiten zurechtlegen.

Dennoch hat sich das Bild im Vergleich zu den Kundgebungen zur Präsidentschaftswahl 2012 deutlich verändert. Damals war die Bastille in ein Meer aus roten Fahnen getaucht, auch die „Internationale“ erklang, wie auf dem folgenden Video zu sehen ist.

Rot-weiß-blaue Fahnen gab es zwar auch schon zu diesem Zeitpunkt- es passt auch zum traditionell patriotischen Kurs der KPF, mit der Mélenchon damals verbündet war. Doch waren die Nationalfahnen nur sehr vereinzelt zu sehen. Bei dieser Kundgebung im Jahr 2012 rief Mélenchon in seiner Rede sogar wörtlich: „Wir sind die rote Fahne“, wie im folgenden Video zu hören ist..

 

Es gibt also inzwischen eine deutliche Veränderung. patriotische Inhalte werden betont, auf Wahlkampfmeetings werden nun massiv und prominent französische Nationalfahnen präsentiert. Und das wird auch ideologisch begründet.

In einem längeren Interview mit dem US-amerikanischen Jacobin Magazine erklärte Sprecherin Raquel Garrido die Strategie: „In unserem Programm gibt es viele solcher linker Vorschläge, aber der Begriff ,links‘ kommt nicht vor. Wir sprechen nicht den Identitäts-Patriotismus jener an, die meinen, man müsse ,die Linke retten‘ oder ,links sein‘. Das ist ein Minderheitenprogramm. Wir verlangen nicht, dass Leute sich erst als links deklarieren müssen, bevor sie sich für die Demokratie einsetzen dürfen.“

Für mehr Patriotismus?

Patriotismus möchte Garrido laut dem Interview positiv umdeuten: „Wir sind patriotisch, nicht nationalistisch. Patriotismus ist die Liebe für das Eigene, während Nationalismus Hass auf Andere beinhaltet. Patriotismus bedeutet auch Empathie für die MitbürgerInnen.“ Inwieweit La France insoumise allerdings den Rechtsruck der Gesellschaft befördert, indem es selbst auf den nationalistischen Zug aufspringt, bleibt unbeantwortet.

Gleichzeitig bedient La France insoumise sehr wohl auch die klassische Linke. So war etwa das Datum der Kundgebung am 18. März keineswegs zufällig gewählt. Am 18 März 1871 begann der proletarische Aufstand der Pariser Kommune, die nach wenigen Wochen von Truppen in Blut ertränkt wurde.

Vorbild Südamerika

Das politische Ziel sei laut Garrido eine „sechste Republik“, die Ideologie ein „humanistischer Populismus“. Der Blog Mosaik hat das Interview in einer gekürzten Version übersetzt, diese kann hier nachgelesen werden. Der Titel „Mélenchons Rezept: Linke, nein danke!“ scheint allerdings angesichts obiger Bilder doch übertrieben.

Denn die Absage an die Linke ist keineswegs komplett, Symbole werden bedient und verstanden. Auch die Homepage von Mélenchon zeugt nicht unbedingt von einer Unabhängigkeit von der Linken. Die Liste der „Freunde“ auf seiner Page ist hier etwa ein interessanter Indikator. Von seiner eigenen Linkspartei über die KP bis zur kleinen trotzkistischen Organisation Révolution ist alles dabei, was das linke Herz begehrt.

Doch Garrido verortet sich auch innerhalb der Linken. Insbesondere Venezuela, Ecuador und Bolivien haben es ihr angetan. Dort kamen in den letzten Jahren linksreformistische Volkstribune an die Macht. Sie verbesserten in vielen Bereichen tatsächlich das Leben der armen Bevölkerung fundamental. Doch gleichzeitig tasteten sie die kapitalisischen Einkommensverhältnisse nicht an, womit sie bald an Grenzen stießen.

Die Folge sind zunehmende autoritäre Maßnahmen,. In Venezuela etwa muss die Regierung zu immer repressiveren Maßnahmen gegen die immer größer werdenden Proteste der rechten Opposition greifen. Die dortige Regierung hat wohl ein klares Ablaufdatum. Ob das ein ideales Vorbild ist, sei dahingestellt.

Ein Erfolgsrezept?

Mélenchon hat trotz verpassten zweiten Wahlgangs ein sehr gutes Ergebnis erreicht. Er schnitt deutlich deutlich besser als andere KandidatInnen links der Sozialdemokratie vor ihm. Ist also eine ideologische Überwindung der Linken der Stein der Weisen, wie manche nun meinen?

Um das zu beantworten, ist ein kleiner Ausflug ins französische Parteiensystem sinnvoll. Das beste Ergebnis nach dem ersten Wahlkampf erzielte Emmanuel Macron mit 23,9%. Kandidiert hat Macron für die eigens gegründete Wahlbewegung En Marche! (Etwa: Auf dem Vormarsch!).

Im Zentrum der Macht

Zuvor war Macron zwischen 2014 und 2016 Wirtschaftsminister in der Regierung des Sozialdemokraten François Hollande. Medial wird er meist als Kandidat des „Zentrums“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine französische Eigenart.

Das sogenannte Zentrum ist neben Konservativen und Rechtsextremen eine der Strömungen im bürgerlichen Parteienspektrum. Bei vergangenen Wahlen trat François Bayrou für diese Strömung an und war dabei insbesondere im Jahr 2007 mit über 18 % der Stimmen sehr erfolgreich. 2012 waren es dann immerhin noch 9,1%.

Das bürgerliche Zentrum definiert sich auch in Abgrenzung zu den konservativen Gaullisten, also der Partei des Generals und späteren Präsidenten Charles de Gaulle. Diese traditionelle konservative Partei strahlt bis weit ins extrem rechte Lager aus. Ihr Name wechselt relativ häufig, aktuell firmiert sie unter der Bezeichnung Les Républicains (Die Republikaner). Der Kandidat dieses Lagers war François Fillon, er kam auf 19,9%.

Bei dieser Wahl gab es allerdings eine herausragende Besonderheit.

Gespaltene Sozialdemokratie

Mit Emmanuel Macron trat ein ehemaliger sozialdemokratischer Spitzenfunktionär an, der politisch das sogenannte Zentrum repräsentierte. Er machte das Zentrum damit zu einem gemeinsamen Wahlprojekt liberaler bürgerlicher Kreise sowie des rechten Flügels der Sozialdemokratie. Und diese Addition der Kräfte erklärt auch seinen Erfolg.

Der offizielle Kandidat der Sozialdemokratie hingegen war Benoît Hamon. Er war zum Schrecken des Partei-Establishments als Vertreter des linken Flügels in einer Urabstimmung zum Kandidaten der Partei gewählt worden. Viele führende Kader der Sozialistischen Partei unterstützten daraufhin lieber den „Unabhängigen“ Emmanuel Macron.

Links, rechts oder in der Mitte weiter

Im folgenden Wahlkampf wurde Benoît Hamon schlicht zerrieben. Hamon bekam schließlich gerade einmal 6,4% der Stimmen.

Von rechts setzte ihm Emmanuel Macron zu, unterstützt von zahlreichen sozialdemokratischen FunktionärInnen. Und von links kam Jean-Luc Mélenchon, Kandidat von La France Insoumise. Ein weiteres Problem für Hamon: die Sozialdemokratie stellt derzeit die Regierung. Und sie ist aufgrund ihrer Politik in der Bevölkerung äußerst unpopulär.

Jean-Luc Mélenchon ist für linke SozialdemokratInnen durchaus wählbar, er hat schließlich selbst eine lange Geschichte in der Sozialdemokratie. Ab 1986 war er Mitglied des französischen Senats, von 2000 bis 2002 Minister für Berufsbildung. 2008 trat er allerdings aus der Sozialdemokratie aus und gründete die Parti de Gauche (Linkspartei).

Der Aufstieg von Mélenchon

Im Jahr 2012 kandidierte Mélenchon erstmals bei den Präsidentschaftswahlen. Aufgestellt wurde er von einem Wahlbündnis aus seiner Linkspartei und der Kommunistischen Partei Frankreichs, das sich Front der Linken nannte. Damals kam er auf 11,1% der Stimmen. Neben ihm hatten auch andere linke Kräfte bei dieser Wahl kandidiert. Zum Verständnis: Die französische Parteienlandschaft ist stark ausdifferenziert.

Im ersten Wahlgang treten bei Präsidentschaftswahlen oft fast ein dutzend KandidatInnen an (zur Kandidatur notwendig sind die Unterschrift von 500 BürgermeisterInnen). Der Hintergrund ist nicht zuletzt die Tradition des französischen Mehrheitswahlrechts.

Ein Einzug ins Parlament oder der Sieg bei einer Wahl ist meist ohnehin nur über Listenverbindungen im zweiten Wahlgang möglich. Im ersten Wahlgang präsentieren sich die Parteien selbst, im zweiten werden dann Wahlbündnisse gesucht.

Der Vergleich: die Wahlen 2012

2012 also standen neben Mélenchon auch noch Grüne und die in Frankreich traditionell durchaus relevanten trotzkistischen Parteien auf dem Stimmzettel. Die grüne Eva Joly erhielt 2,3%, Philippe Poutou von der trotzkistischen Nouveau Parti anticapitaliste (NPA, Neue antikapitalistische Partei) kam auf 1,2%, Nathalie Arthaud von der ebenfalls trotzkistischen Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf) auf 0,6%.

Der Sozialdemokrat François Hollande erhielt demgegenüber 28,6%, François Bayrou als Kandidat des Zentrums 9,1%. Vergleichen wir nun diese Zahlen mit dem aktuellen Wahlergebnis.

Denn um zu überprüfen, ob Mélenchon beim aktuellen Wahlgang mit seiner Strategie tatsächlich substantiell zulegen konnte, müssen natürlich zuerst die Wahlen davor ausgewertet werden.

– Das Zentrum und die gesamte Linke bekamen 2012 insgesamt 52,9% der Stimmen. Diesmal waren es ebenfalls 52,9%.
– Die Sozialdemokratie und das Zentrum kamen 2012 auf 37,7%. Diesmal waren es 31,5% (neben Macron kandidierte noch Jean Lassalle, der ebenfalls dem Zentrum zugerechnet wird).
– Die Sozialdemokratie kam auf 28,6%. Diesmal waren es 6,4% für den offiziellen Kandidaten der SP.
– KandidatInnen der Linken jenseits der Sozialdemokratie (inkl. der Grünen) kamen auf 15,1%. Diesmal waren es 21,4%.
– Die sogenannte „Linke der Linken“, also die TrotzkistInnen, kamen auf 1,8%. Diesmal waren es ebenfalls 1,8%.

Zentrale Veränderung: Der Tod der Sozialdemokratie

Insgesamt blieb also eine ganze Reihe von Elementen sogar erstaunlich stabil. Doch es gab vor allem eine zentrale Veränderung: Der offizielle sozialdemokratische Kandidat Benoît Hamon wurde in einem Dreikampf mit dem rechten Sozialdemokraten Emmanuel Macron und dem ehemals linken Sozialdemokraten Jean-Luc Mélenchon schlicht aufgerieben.

Die Grünen stellten diesmal keine/n eigene Kandidat/in, ihre Stimmen wurden somit frei und unter den anderen BewerberInnen aufgeteilt. Die trotzkistischen Parteien kamen auf ähnliche Ergebnisse wie bei der letzten Wahl. Eine bedeutende Verschiebung kann also jenseits der Sozialdemokratie nicht ausgemacht werden.

Verschiebung innerhalb der Linken

Auch Vergleiche mit früheren Präsidentschaftswahlen zeigen, dass die grob gefassten politischen Spektren in Frankreich insgesamt eigentlich relativ stabil bleiben. Was sich allerdings tatsächlich verändert hat: die Gewichte innerhalb der Linken haben sich deutlich verschoben.

Fahnen der linken Gewerkschaft SUD am Pariser Bahnhof Austerlitz

Die traditionelle Sozialdemokratie könnte sich in Frankreich bald erledigt haben. Sie würde damit einen weiteren Beleg für die Krise des traditionellen Parteiensystems liefern.

Allianz von Bürgerlichen und Sozialdemokratie

Am rechten Flügel wird Macron wohl im Falle eines zu erwartenden Gewinns im zweiten Wahlgang eine neue Partei formen. Diese neue Formation könnte sich am Beispiel der ehemaligen italienischen Sozialdemokratie orientieren, also eine Bündnis-Partei aus Bürgerlichen und rechter Sozialdemokratie werden.

Am linken Flügel der SP haben Hamon und seine Gefolgsleute aktuell wohl die deutlich schlechteren Karten als Mélenchon. Denn an ihnen hängt der Makel der Systempartei, die für zahllose Verschlechterungen verantwortlich ist. Die Grünen scheinen aktuell ebenfalls keine besondere Rolle zu spielen.

Völliger Niedergang der KPF

Die Kommunistische Partei war bis in die 1970er Jahre die führende ArbeiterInnenpartei in Frankreich. Doch danach erlebte sie einen dramatischen Niedergang. 2007 erhielt ihre Kandidatin Marie-George Buffet gerade einmal noch 1,9% der Stimmen. 2012 organisierte sie dann keine eigene Kandidatur mehr, PG-Vorsitzender Mélenchon wurde Spitzenkandidat des Bündnisses „Front der Linken“, das von der KP unterstützt wurde.

Die KP kam in diesem Bündnis aber zumindest auf Plakaten und in der öffentlichen Wahrnehmung noch vor. 2017 musste sie endgültig klein beigeben und lief (unter ferner liefen) für La France insoumise.

TrotzkistInnen können Aufwind nicht nutzen

Die Anhängerinnen des russischen Revolutionärs Leo Trotzki sind in Frankreich außergewöhnlich stark. Die beiden stärksten Parteien LO und NPA haben mehrere zehntausend SympathisantInnen und sind in der Bevölkerung und auch betrieblich (etwa im Automobilsektor, bei der Post und bei der Bahn) gut verankert.

Doch nach 2002 hat die trotzkistische Linke wohl eine einmalige Chance verspielt Bei dieser Präsidentschaftswahlen schnitten die drei KandidatInnen dieses Lagers überaus gut ab.

Die äußerst populäre Arlette Laguiller von der LO kam auf 5,7 %, Olivier Besancenot von der LCR (Revolutionäre Kommunistische Liga, heute die NPA) auf 4,3%, Daniel Gluckstein von der PT (Partei der Arbeiter, heute die POID) auf 0,5%. Insgesamt 10,5% in einem großen westlichen Industriestaat für KandidatInnen der revolutionären Linken – ein enormer Schock für das Establishment.

Doch damit war die Liste der linken Kandidatinnen 2002 noch nicht zu Ende. Die Grünen kamen auf 5,3 %, die KP auf 3,4 %, zwei links-sozialdemokratische KandidatInnen erreichten gemeinsam 7,6%. Auch 2007 und 2012 gab es eine breite Auswahl linker KandidatInnen.

Zwischen zwei Übeln

Doch die trotzkistische Parteien LO und NPA konnten ihren enormen Wahlerfolg nicht in weitere Verankerung ummünzen. In Folge sanken ihre Wahlergebnisse von Wahl zu Wahl auf aktuell gemeinsam rund 2%.

Ein wesentlicher Faktor dafür dürfte mit den Ereignissen im Jahr 2002 zusammenhängen. Im zweiten Wahlgang waren nur noch der unbeliebte rechte Gaullist Jaques Chirac und der rechtsextreme Jean-Marie Le Pen übrig. In Folge gab es starken öffentlichen Druck auf linke Parteien, zur Wahl von Chirac aufzurufen.

Die LO widerstand diesem Druck nach anfänglich unklaren Stellungnahmen, die LCR/NPA und andere Linke hingegen riefen indirekt zur Wahl von Chirac auf. Chirac kam schließlich auf über 80 %, Stimmen der radikalen Linken waren dazu wohl kaum nötig.

Die berüchtigte „verlorene Stimme“

Doch in vielen Organisationen kam es währenddessen und danach zu harten Debatten. Auch medial setzte sich der Druck fort: die Erfolge der trotzkistischen Parteien wurden dafür verantwortlich gemacht, dass es der Sozialdemokrat Lionel Jospin nicht in die Stichwahl geschafft hatte.

Immer wieder wurde in Folge das Argument der verlorenen Stimme bemüht und das Jahr 2002 als warnendes Beispiel hervorgekramt. Tatsächlich aber hätte es die Sozialdemokratie natürlich jederzeit selbst in der Hand gehabt, mit einer anderen Politik mehr WählerInnen zu überzeugen.

Weniger linke Kandidaturen

Bei der heurigen Wahl kandidierten insgesamt weniger verschiedene linke Organisationen als in der Vergangenheit. KP und Grüne standen nicht zur Wahl, es gab keine eigenen linkssozialdemokratischen Kandidaturen und die beiden verbliebenen trotzkistischen Parteien (die POID trat nicht an) konnten nicht an vergangene Erfolge anschließen. Die Sozialdemokratie war gespalten und aufgerieben.

Auf all diese Stimmenpotenziale konnte Mélenchon zurückgreifen. Und schließlich sah es so aus, als würde Mélenchon tatsächlich die Chance haben, in den zweiten Wahlgang zu kommen. Das Argument der nützlichen Stimme setzte ein und trieb ihm weitere WählerInnen zu.

Auch Macron profitierte von diesem Argument. Immer wieder ging es dabei um die Auseinandersetzung mit der rechtsextremen Marine Le Pen und dem Front National.

Front National legt nur wenig zu

Ein Wort in diesem Zusammenhang zu Le Pen. Die Wahlergebnisse der Rechtsextremen sind eigentlich nicht das Thema dieses Artikels, dennoch seien sie hier kurz gestreift. Der FN steigert sich zwar tatsächlich von Wahl zu Wahl. Dennoch irritiert die fast ausschließliche Beschäftigung vieler Medien mit Le Pen.

Denn der Langzeitvergleich zeigt: Bereits ab den späten 1980er Jahren erreichte die extreme Rechte rund 15% – 20%. Ein massiver Durchbruch ist also keineswegs zu verzeichnen.

In Zahlen:
1988: 14,5%
1995: 15,0% (zusätzlich kandidierte Philippe de Villiers , ein weit rechts stehender Gaullist. Dieser erhielt 4,7%)
2002: 16,9% (im zweiten Wahlgang 17,8%; die FN-Abspaltung MNR erhielt nochmals 2,3%).
2007: 10,4% (zur Wahl stand auch der klar rechts positionierte Gaullist Nicolas Sarkozy, der zum Präsidenten gewählt wurde. Er erhielt im ersten Wahlgang 31,1%. Philippe de Villiers kam auf 2,2%)
2012: 17,9%
2017: 21,4%

Ein Zuwachs also von gerade einmal 3,5%, der damit in keinem Verhältnis zur Berichterstattung steht. Es scheint, hier würde auch ein medialer Hype mit immer neuen Erklärungsversuchen kreiert. Tatsächlich aber hat die extreme Rechte bereits seit mindestens 30 Jahren eine relativ stabile WählerInnenbasis.

Weit rechte Gaullisten

Zusätzlich war das rechtsextreme Spektrum bereits seit der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg immer ausgezeichnet im rechten Flügel der Gaullisten verankert. Die Übergänge zur Mafia und zum organisierten Verbrechen waren dabei äußerst fließend. (Der Sender ARTE hat dazu eine sehr sehenswerte dreiteilige Dokumentation gestaltet, die hier zu sehen ist.)

So wird etwa der ehemalige weit rechts stehende Innenminister Charles Pasqua immer wieder als der eigentliche oberste Pate der korsischen Mafia genannt. Er starb 2015, in seinen letzten Lebensjahren galt er als Förderer von Nicolas Sarkozy.

Wahlerfolg als Messlatte?

Doch zurück zum eigentlichen Gegenstand dieser Analyse. Mélenchon hat einen relativen Erfolg vorzuweisen: er konnte wohl vor allem verwaiste Stimmen der Sozialdemokratie auffangen. Erfolg allein ist aber natürlich noch kein Beweis für richtige politische Ideen. Wenn dem so wäre, hätte beispielsweise aktuell in Österreich die FPÖ die besten Ideen für die Zukunft der Gesellschaft.

Erfolg ist aber jedenfalls eines: ein Indikator für eine Strategie, die in einer bestimmten politischen Situation Stimmen bringt. Doch auch das muss an sich noch nicht positiv sein.

Wenn etwa aktuell die österreichische Sozialdemokratie die FPÖ durch ihre Positionierung überflüssig macht, mag das Stimmen bringen. Politisch ist dieser Rechtsruck für die Stimmung in der Gesellschaft dennoch enorm schädlich.

Jede Stimmenmaximierung sollte also auch immer daran gemessen werden, wie sie zustande kam und was sie künftig verändern wird. Die Positionierung von La France insoumise etwa könnte die Gefahr in sich bergen, dass künftig nationalistische Ideen noch salonfähiger werden.

Brachte neue Strategie den Durchbruch?

Doch natürlich, in Wahlauseinandersetzungen wird zumeist der Erfolg bewertet. Und für Frankreich wird aktuell in manchen linken Debatten behauptet, dass die Absage von La France insoumise an die Linke der Garant des Erfolges wäre. Im Vergleich zu den letzten Wahlen kann allerdings eine solche qualitative Maximierung der Stimmen über linke Milieus hinaus schlicht nicht festgestellt werden, wie wir gesehen haben.

Das Wahlbündnis rund um Mélenchon , die „Front der Linken“ erhielt 2012 rund 11% der Stimmen. Diesmal konnte La France insoumise zusätzlich auf Stimmenpotenziale aus der extrem schwachen Sozialdemokratie zurückgreifen. Anders gesagt: Mélenchon konnte das Feld von links aufrollen, weil große Teile der SP nach rechts gingen. Eine Überholtheit der Lager, wie sie von manchen behauptet wird, sieht anders aus.

Viele Stimmen wurden frei

Dazu kamen Mélenchons ehemals linkssozialdemokratischen Kreise der Linkspartei, das KP-Milieu sowie grüne Stimmen. Schließlich gab es viele, die in der Vergangenheit trotzkistisch gewählt haben. Das Argument der nützlichen Stimme war ein starker Faktor, um vor allem gegen Ende des Wahlkampfs weitere Stimmen Richtung Mélenchon zu treiben.

Schlussendlich wurden es 19,6% für Mélenchon. Achtbar, doch unter diesen Bedingungen in keinster Weise eine neue Qualität. Die Analyse zeigt: die Lager blieben insgesamt eigentlich relativ stabil. Angeblich neue Stimmenpotenziale, die von linker Rhetorik verschreckt worden wären, sind im Ergebnis kaum auszumachen.

Rote Fahnen und „Die Internationale“ stören da also keineswegs – können aber vielleicht manche linke AktivistInnen im Wahlkampf nochmals deutlich mehr motivieren als französische Nationalflaggen.

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