Die Corona-Krise ist gleichzeitig auch die große Klopapierkrise. Warum Corona, Angst und Klopapier aus psychonalytischer Sicht eng zusammenhängen, erklärt Oleksandra Kurbala.

In Zeiten der Krise gibt es die berühmte Phrase, den „eigenen Arsch zu retten“. Manche Menschen scheinen das tatsächlich buchstäblich genommen zu haben – und offenbar bedeutet es derzeit, eine ganze Menge Klopapier zu kaufen.

Es gibt keinen Zweifel, dass wir derzeit mit einer enormen Menge an Ängsten in der Gesellschaft umgehen müssen – und sich diese Ängste offenbar unter anderem in Panikkäufen ausdrücken. Besonders häufig kommen solche Panikkäufe bei Produkten vor, die als unmittelbare Grundbedürfnisse verstanden werden. Dazu gehören etwa Nudeln, Dosennahrung oder Mehl. Oft handelt es sich dabei um Produkte, die billig und lang haltbar sind – somit kann relativ billig und schuldfrei ein hohes Ausmaß an subjektiver Sicherheit erreicht werden.

Dennoch fällt auf, dass es in der öffentlichen Diskussion, in den Medien und vor allem im Netz eine ganz besondere Fixierung auf ein ganz gewöhnliches Objekt gibt: Toilettenpapier. Warum hat gerade Klopapier eine solche Bedeutung erlangt? Hier sind einige Antworten aus einer psychoanalytischen Perspektive.

  • Der sprachliche Aspekt

Sprache spielt eine Schlüsselrolle im Funktionieren des Unbewussten – einem treibenden Teil der Psyche, den Menschen eben nicht bewusst wahrnehmen. Nach Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, und nach Jaques Lacan, einem der wichtigsten Psychoanalytiker des 20. Jahrhunderts, prägt die Sprache die Art, wie wir denken und wie wir die Welt wahrnehmen.

Die Angst an sich wird in mehreren Sprachen damit umschrieben, sich anzuscheißen. Dieses Missgeschick (scheinbar) ungeschehen zu machen, benötigt Klopapier.

  • Der Kontrollverlust

Die Situation scheint aktuell in vielen Ländern außer Kontrolle zu geraten. Und Menschen können individuell wenig tun, um Sicherheit zu garantieren und das Gefühl der Hilflosigkeit im Angesicht eines möglicherweise drohenden Desasters zu bekämpfen.

Etwas zu kaufen ist ein Weg, ein Gefühl der Kontrolle wieder zu erlangen – das gilt auch und besonders für Panikkäufe. Nach der Theorie der psychosexuellen Entwicklung von Sigmund Freud würde das der Analphase der Entwicklung entsprechen.

Das ist jene Phase, wo das Kind zum ersten Mal Kontrolle, Besitz und Kreativität lernt, indem es mit seinem eigenen Kot interagiert. Viele Menschen haben in diesen Tagen Angst – Angst macht uns magenkrank und die Konsequenz ist oft ein Kontrollverlust über die Körperausscheidungen.

Während der Analphase lernen wir Beziehungen mit Autorität und entwickeln einen inneren Elternteil (in der Psychoanalyse: das Super-Ego), der dafür verantwortlich ist, uns zu motivieren: Wenn du scheißt (und jede/r tut es), hast du besser einen Topf und etwas Klopapier.

  • Die gemeinsame Erfahrung des Tabuthemas

Jeder Mensch muss schlafen, Nahrung in den Körper bringen und die Abfallprodukte müssen den Körper wieder verlassen. Über Scheiße und Toilettenbesuche zu sprechen ist ein Tabu in unserer Gesellschaft – etwas, was privat getan werden soll und worüber in der Öffentlichkeit nicht gesprochen werden soll. Krisen bringen oftmals Regression, also den teilweisen Rückfall ins Kindliche. In der jetzigen Krise können wir Regressionen zur analen Phase beobachten, wo die Faszination über die eigenen Exkremente ein normaler Teil der Entwicklung ist.

Kinder machen besonders gerne Witze über Toiletten-Angelegenheiten – und mit etwas Regression können wir solche Witze alle nochmals genießen. Jetzt, wo so viele Menschen obszöne Mengen von Klopapier kaufen, wird die ohnehin lang bekannte Wahrheit auch öffentlich sichtbar: Jeder Mensch, ja absolut jeder Mensch, braucht Klopapier.

Es ist erleichternd zu wissen: „Wir alle tun es. Ich bin nicht die einzige Person mit diesem schmutzigen Geheimnis.“ Der Humor erwächst hier aus der Erleichterung nach Anspannung und der Überwindung von Hemmungen.

  • Was für ein Chaos!

Üblicherweise brauchen wir Klopapier, um uns selbst zu säubern. Der Säuberung des Arschs eine besondere Bedeutung zuzumessen, kann in Zeiten des vermeintlichen Chaos ein Versuch sein, unerwünschte Gedanken und Teile der Psyche auf die nun aus dem Körper entfernte Scheiße zu projizieren und sich so nachgespielt vor ihr zu schützen.

Ein „sauberes“ Bewusstsein zu haben kann wichtig sein, wenn jemand ein gutes Selbstbild bewahren möchte. Das besondere Bedürfnis danach, sauber zu bleiben, kann auch als Verteidigung gegen eigene sadistische Fantasien gesehen werden – etwa die Überlegung: „Es freut mich, wenn der alte Arsch stirbt.“ In einer entwickelteren Form kann die Fixierung auf Sauberkeit auch eine Verteidigung gegen eine psychotische Desorganisation der eigenen Persönlichkeit und der Gruppe sein, der sich die Person zugehörig fühlt.

  • Die Verschiebung

Menschen haben derzeit viele verschiedene Ängste. Menschen haben Angst, dass sie oder ihre Lieben krank werden oder sogar sterben könnten. Menschen haben Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, vor dem Unbekannten und davor, was es bringen könnte.

Menschen lagern daher alle Arten von Dingen, vor allem Nahrungsmittel. Die Angst vor Hunger ist allerdings zu groß, um offen ausgesprochen zu werden. Die Behörden versichern: „Supermärkte werden offen bleiben, es gibt genug essen.“ Aber werden alle in der Lage dazu sein, diese Nahrungsmittel auch zu bezahlen?

Was die Behörden versuchen zu sagen, ohne es zu sagen, ist: „Macht euch keine Sorgen, ihr werdet nicht hungern.“ Und auf der bewussten Ebene werden die meisten Menschen sagen: „Natürlich, es ist genug da, es ist nicht so schlimm“ – aber weiter darauf achten, genug Nudeln zu Hause zu haben.

Es ist schwierig, über etwas so traumatisches zu sprechen wie Hunger oder Tod. Wir sprechen über Menschen, die von Covid-19 sterben, aber oft sind es trockene Zahlen.

Wir sprechen und scherzen über Klopapier, um zu vermeiden, über unser Misstrauen gegenüber den Behörden zu sprechen. Wir sprechen und scherzen über Klopapier, damit wir nicht über Mangel, Krankheit oder Tod sprechen müssen.

  • Die Beruhigung

Wir verschieben unsere tiefsten Ängste, etwa vor dem Tod, und verdichten sie auf ein Symbol: Den Mangel an Klopapier. Damit versichern wir uns gleichzeitig, dass letztlich alles in Ordnung bleibt. Wer sich um Klopapier Sorgen machen kann, hat genug zu Essen. Wer Klopapier zu Hause verwenden kann, hat ein Zuhause, hat fließendes Wasser und Kanalisation. Und in der Abgeschiedenheit der Toilette  kann jede/r so tun, als wäre alles in Ordnung.

So etwas wie psychische Zufälle gibt es schlichtweg nicht. Auch die Klopapier-Krise zeigt Prinzipien der psychischen Organisation von Menschen, wenn sie mit Ängsten umgehen. Die Situation wird sich irgendwann wieder verändern, die Corona-Krise wird vorübergehen. Genau das wird auch mit den Bedürfnissen der Menschen und mit der von ihnen geschaffenen Kultur passieren.

Doch das Internet erinnert sich an alles – und so wird die Geschichte dieser Pandemie genauso für immer erhalten bleiben wie die Witze über die Klopapier-Krise.

Oleksandra Kurbala ist Bachelor der Psychotherapiewissenschaften in Wien.

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