50 Stunden wurde Noa nach der Grenzen-Töten-Demo am 30. Jänner in Innsbruck festgehalten, wie sie berichtet. Jetzt erzählt sie, wie sie in der Haft behandelt wurde. Sogar Hitler-Grüße seien gefallen, sagt ein weiterer Aktivist.
Der Polizist sagt mir, er rechne mit einem ruhigen Verlauf der Demo. Wenig später kann ich sehen, wie dutzende seiner Kolleg:innen in voller Montur mit Helm und Schlagstock den Demozug bewachen.
Es ist der 30. Jänner, bis zu 800 Personen haben sich nach Angaben der Veranstalter:innen in der Innsbrucker Altstadt versammelt, um gegen Abschiebungen zu demonstrieren. Die Polizei wird später von 600 Personen sprechen.
Auf einmal bleiben alle stehen. Ich will nach vorne gehen, sehen, was los ist. Plötzlich rennen Menschen in meine Richtung, ich höre Schreie: „Pfeffer!“. Dann laufe auch ich.
Noa will ebenfalls laufen. Aber sie kommt nicht weit. Gemeinsam mit anderen Aktivist:innen wird Noa von der Polizei eingekesselt. Sie sagt mir einige Tage nach der Demo: „Ich bin nur auf die Straße gegangen, um gegen Abschiebungen zu protestieren. Das ist mein Recht.“ Noa heißt nicht wirklich Noa. Doch aus Angst vor Repression hat sie mich darum gebeten, dass ihr Name im Artikel geändert wird.
Brennende Kälte
Mehr als eine Stunde lang und bei Temperaturen um den Gefrierpunkt werden die Demonstrant:innen eingekesselt. Die Stimmung allerdings ist trotz der Kälte hitzig. Die Demonstrant:innen wirken fassungslos. Die Wut scheint genauso stark in ihnen zu brennen wie der Pfefferspray in ihren Augen.
Ich sehe, wie ein Demonstrant versucht, mit Schnee seine geschwollenen Augen zu kühlen. Demo-Sanitäter werden von der Polizei nicht zu den Verletzten durchgelassen. Menschen werden weggetragen, über den Boden gezogen. So auch Noa. “Mit Schmerzgriffen haben sie mich dann hochgezogen und in den Bus gebracht”, erzählt sie. Dann geht es für sie zur Polizeiinspektion am Hauptbahnhof.
Keine Rechtsbelehrung
Noa hat keinen Ausweis dabei und will ihre Identität nicht preisgeben. Am Abend wird die Anhaltung zur Festnahme: Verdacht auf versuchten Widerstand gegen die Staatsgewalt. In der Nacht wird sie in die Nähe von Innsbruck überstellt. „In eine circa vier Quadratmeter kleine Zelle im Souterrain.“ Sie erzählt, dass sie ohne Schuhe zwei Tage lang auf Fliesenboden ausharren musste.
„Außer durch einen Zettel, der in der Zelle hing, wurde ich nicht über meine Rechte aufgeklärt”, erzählt sie. “Und den Anruf bei einem Anwalt musste ich mir erkämpfen.”
Einer festgenommenen Person stehen zwei erfolgreiche Anrufe zu. Nach vier Stunden kann Noa eine Demo-interne Hilfs-Hotline anrufen, um mitzuteilen, dass sie festgenommen wurde. Nach 20 Stunden telefoniert sie, um die Nummer eines Anwalts/ einer Anwältin zu erfahren. Im gleichen Moment habe ein Polizist ihr einen Zettel mit der Telefonnummer gereicht. „Der zweite Anruf war also verschwendet“, sagt sie.
Durch ihre Hartnäckigkeit und das Versprechen, den Beamt:innen danach ihre Daten zu geben, habe sie einen dritten Anruf bekommen – diesmal spricht sie mit einem Anwalt. „Er hat mich ermutigt zu bleiben und gesagt, dass die damit nicht durchkommen.‘“
Zahnbürste gegen Bezahlung
Heute ist sie sich sicher: „Hätte ich meine Rechte nicht gekannt und auf gewisse Dinge bestanden, hätte ich viel weniger gekriegt“. Eine Zahnbürste bekommt sie schlussendlich – sie muss sie allerdings von ihrem eigenen Geld bezahlen.
Gleiches gilt für das Frühstück am Montag: „Sie haben mich gefragt, ob ich etwas frühstücken will. Dann kamen sie mit Käsesemmeln und haben gesagt, dass sie das von meinem Geld gekauft hätten. Mit mir war das nicht abgesprochen, dass jemand einfach mein Geld nimmt.“ Das Mittagessen sei dann ganz ausgeblieben. Genauso wie das Nennen der Dienstnummer des Beamten, der ihr Geld entnommen hätte.
30-Minuten-Notfälle
„Wegen allem musste ich nach Polizist:innen rufen. Auch, wenn ich zum Waschbecken hinter den Gitterstäben wollte.“ Dafür habe es einen „Notknopf“ gegeben, wie ihn die Beamt:innen genannt hätten.
„Aber ich wusste, ich darf nicht zu oft nach ihnen rufen, sonst nehmen sie es nicht mehr ernst und lassen dich da drin versauern. Der Knopf ist die einzige Möglichkeit, mit jemandem zu reden“. Durchschnittlich habe es 20 bis 30 Minuten gedauert, bis jemand kam, wenn sie läutete.
Keine Masken, Übergriffe
Am Montag um 16:30 Uhr, nach mehr als 40 Stunden, habe sie den Beamt:innen schließlich ihre Daten genannt. „Weil ich es nicht mehr ausgehalten habe“, erzählt sie. Um die zwölf Polizist:innen sind da mit ihr im Raum. Alle tragen Masken – ganz anders, als in der Polizeiinspektion am Hauptbahnhof, wie sich Noa erinnert.
Andere Demonstrant:innen berichten mir, dass Beamt:innen keine Masken getragen hätten. Einer demonstrierenden Person sei in Haft sogar die Maske weggenommen worden. „Ich musste mehrmals um eine FFP2-Maske bitten, bevor ich sie bekam”, sagt mir ein Demonstrant.
Sexismus und Wiederbetätigung?
Die Vorwürfe der Aktivist:innen der Polizei gegenüber gehen noch weiter: Verweigerung von Menstruationsprodukten und von vegetarischem Essen, körperliche Übergriffe, Sexismus. Auch Noa wurde gesagt: „Ach, junge Dame, du hast ja noch so viel vor dir“. Im Gegensatz zu anderen Demonstrantinnen sei sie zumindest von einer Polizistin ausgezogen und durchsucht worden.
Ein inhaftierter Demonstrant erhebt noch weitere Vorwürfe. In einem Gedächtnisprotokoll, das er mir übergeben hat, schreibt er: “Durch die hellhörige Tür lassen sich Gesprächsfetzen wie ‘Heil Hitler’, ‘Die richten wir noch alle her’, ‘die Terroristen’, ‘Sollen die in Kabul oder Abu-Dhabi mal demonstrieren, da werden die schon sehen’ vernehmen.“ Wer das gesagt hat, wisse er nicht.
[Update: Auf Anfrage sagt die Landespolizeidirektion (LPD) Tirol zu diesen Vorwürfen, dass bisher „keine allenfalls betroffenen Personen persönlich zu dem von Ihnen geschilderten Sachverhalt eine Anzeige/Beschwerde bei der Polizei erstattet“ hätten. „Im Zuge der Aufarbeitung der pauschalen Vorwürfe gegen die Polizei“ würde „den vorgebrachten Anzeigen/Beschwerden selbstverständlich nachgegangen“.]
70 statt 48 Stunden
Noa war insgesamt 50 Stunden in Polizeigewahrsam, davon 45 Stunden offiziell festgenommen, wie sie erzählt. 48 Stunden wären höchstens erlaubt. Danach hätte ein/e U-Haftrichter/in die Untersuchungshaft verhängen müssen. Doch auch die Frage, ob die 45 Stunden verhältnismäßig waren, steht im Raum. Ebenso wie die Frage, ob die insgesamt 50 Stunden nicht bereits eine Überschreitung der höchstzulässigen Frist darstellen.
Von den 15 festgenommenen Demonstrant:innen der Demo mussten 11 bis zu 48 Stunden in Polizeigewahrsam bleiben – bis ihre Identitäten geklärt waren. Bei vier Personen dauerte es noch länger: Die letzte Person kam erst nach knapp 70 Stunden frei. Aussagen von Aktivist:innen zufolge hätten diese vier Menschen nie eine/n U-Haftrichter/in gesehen. Sie seien stattdessen dem BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) unterstellt worden – obwohl einer von ihnen die österreichische Staatsbürgerschaft besäße.
Polizei spricht von „Berufsdemonstranten“
Wieso Menschen, die auf die Straße gegangen sind, um für ihre Anliegen zu demonstrieren, bis zu 70 Stunden festgehalten wurden, ist unklar und scheint unverhältnismäßig. Auf Anfragen per Mail und Telefon hat die Pressestelle der LPD Tirol nicht geantwortet. Meinem Kollegen Michael Bonvalot hat die LPD Tirol zurückgeschrieben, dass das BFA die Möglichkeit habe, “einen Festnahme- oder Vorführauftrag” zu erlassen. Solche Aufträge seien vorgelegen. Die Frage der Verhältnismäßigkeit ist damit allerdings noch nicht beanwortet.
In einer Presseaussendung begründet die Polizei die Anhaltungen mit Gewaltbereitschaft, Pyrotechnik und dem Halten von zu wenig Abstand. Sie spricht von „Berufsdemonstranten“, die die Konfrontation gesucht hätten und die polizeilichen Maßnahmen irreführend als Polizeigewalt darstellen wollen würden.
Auffällige Unterschiede
Außerdem ist in der Aussendung von einer “Gefährdung der öffentlichen Gesundheit durch massive Übertretungen der Covid19-Bestimmungen” die Rede – obwohl alle Teilnehmer:innen Masken getragen haben. Der Großteil der Demonstrant:innen trug sogar FFP2-Masken, wie ich selbst beobachten konnte. Immer wieder machten die Aktivist:innen auch mit Megaphonen auf die Corona-Bestimmungen aufmerksam.
Vergleicht man diese linke Demo mit Demos und “Spaziergängen” von Corona-Skeptiker:innen und -Leugner:innen, fällt der Unterschied sofort auf. Zahlreiche solche Veranstaltungen in Innsbruck und ganz Österreich, bei denen Teilnehmer:innen weder Masken trugen noch Abstand hielten, wurden bisher von den Behörden weitestgehend akzeptiert. Ganz im Gegensatz zur angemeldeten Grenzen-Töten-Demo, wo die Teilnehmer:innen Masken trugen.
Noa meint: „Die Polizei hat das geplant“
Genauso wie die Polizei hat auch Noa klare Ansichten: „Das war von der Polizei geplant. Die Straße war perfekt zum Kesseln: Wenig Fluchtmöglichkeiten, außerhalb vom Zentrum, keine Passant:innen.“
Rund zwei Tage nach der Demo war Noa wieder daheim – müde, kaputt und noch immer voll Pfefferspray. „Wir wurden wie Dreck behandelt”, sagt sie. Nach ihrer Freilassung musste sie sich, um nach Innsbruck zurückzukommen, am Bahnhof Geld erbetteln. Wegen des Frühstücks, das von ihrem Geld gekauft worden war, hatte sie nicht mehr genug Geld für eine Fahrkarte in der Tasche.
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