Das Corona-Massenlager in der Messe Wien wurde Donnerstag Nacht geräumt. Höchste Zeit: Das Lazarett ist „ein Pulverfass, das jederzeit explodieren könnte“, sagt eine Mitarbeiterin.

Ein Gastbeitrag des Presseservice Wien.

Zwei Wochen lang befanden sich etwa 250 bis 300 geflüchtete Menschen und eine Hand voll Touristen im Corona-Lazarett der Messe Wien. Donnerstag Nacht wurden diese Menschen entlassen, wie ein Sprecher des Krisenstabs der Stadt Wien auf Anfrage bestätigt.

Informationen zur tatsächlichen Lage in der Messe während der Massen-Quarantäne waren rar und drangen und dringen nur spärlich durch. Ein Grund: Laut Hausordnung gibt es ein Social Media-Verbot sowie ein ausnahmsloses Fotoverbot für Mitarbeiter_innen und für die Menschen in der Quarantäne. Eine rechtliche Grundlage dafür ist kaum vorstellbar.

Das Presseservice Wien hat recherchiert und trotz aller Hürden mit mehreren Mitarbeiter_innen sprechen können. Diese erheben schwerwiegende Vorwürfe gegen die Verantwortlichen. Zuständig für das Quarantäne-Lager sind der Krisenstab der Stadt Wien sowie die Magistratsabteilung 15 unter Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ).

Das Corona-Lazarett

Am 24. April wurden die ersten Covid-19 Patient_innen im Betreuungszentrum Prater aufgenommen. Dort stehen schon seit Mitte März Betten für akut erkrankte und sogenannte Verdachtsfälle bereit. Die Messe Wien selbst ist in mehrere Hallen untergliedert, die zu einem Corona-Massenquartier umfunktioniert wurden.

Bild: Presseservice Wien

In der A Halle befinden sich aktuell immer noch etwa 20 bis 30 Menschen und ein einjähriges Kind. Diese Menschen sind Covid-19 positiv, laut Aussage einer Mitarbeiterin haben sie auch einen entsprechenden Bescheid erhalten. Die Halle A steht deshalb unter strikter Isolation und ist abgekapselt von der Halle C. Beide Hallen dürfen nur unter strengen Auflagen und mit Schutzausrüstung betreten werden.

Eine Woche nachdem die ersten Covid-19 Patient_innen in der Halle A angekommen sind, informierte der medizinische Krisenstab per Aussendung, dass 15 Bewohner_innen und zwei Betreuer_innen im „Haus Erdberg“ für geflüchte Menschen ebenfalls positiv auf Corona getestet worden seien.

Räumung des Hauses Erdberg

Angekündigt wurde eine Quarantäne der Flüchtlings-Unterkunft und eine alternative Unterbringung, etwa in einer Betreuungseinrichtung in Floridsdorf. Der Journalist Michael Bonvalot berichtete spät abends noch vor Ort und beobachtete eine weitgehende Räumung des Hauses Erdberg.

„Die Übersiedelung der rund 400 Personen ist nach meiner Wahrnehmung relativ ruhig abgelaufen, die Polizei hat sich im Hintergrund gehalten, was sicherlich zur Entspannung beigetragen hat“, so Bonvalot. Für ihn stellt sich allerdings die Frage, „ob diese Übersiedlung insgesamt eine gesundheitspolitisch wahnsinnig sinnvolle Maßnahme war“. Laut dem Sprecher des Krisenstabs der Stadt Wien hätte es keine Alternative gegeben, etwa aufgrund der sanitären Situation, von fehlenden Fluchtwegen und von Gemeinschaftsküchen in Erdberg.

Doch Journalist Bonvalot kritisiert: „Warum mit diesem Argument mehrere hundert potenzielle Verdachtsfälle aus einer Unterkunft mit Ein- und Zweibettzimmern in eine riesige Gemeinschaftsunterkunft in einer Halle gebracht werden, ist damit nicht nachvollziehbar.“

Auch das Argument der Fluchtwege ist zumindest fragwürdig, so Bonvalot: „Wenn es hier ein Problem gibt, dann würde das ja insgesamt die Unterbringung in Erdberg in Frage stellen.“ Ein Mitarbeiter der Messe Halle zweifelt die „überstürzte Übersiedlung“ ebenfalls an und kritisiert, dass die Maßnahme womöglich medizinisch überhaupt nicht nötig gewesen wären.

Chronologie eines medizinischen Skandals

Die fluchtartige Verlegung von 300 Menschen führte zu einer chaotischen Situation. „Auf so einen plötzlichen Ansturm war man in der Halle schlichtweg nicht vorbereitet gewesen“, so ein Mitarbeiter. Laut einem Betroffenen herrschten nun seit fast zwei Wochen „menschlich untragbare Zustände“.

Die Übersiedlung fand mitten in der Nacht mit Sonderbussen der Wiener Linien statt und sei mit dem Personal in der Messe „schlecht koordiniert“ gewesen. Eine Zählung beim Einschleusen der Personen hätte ebenso wenig stattgefunden wie das Feststellen der Namen. Lediglich die bereits positiv getesteten Personen seien in die Halle A verlegt worden. Ein Augenzeuge beschreibt die Situation als chaotisch und unkontrolliert. Laut ihm sei zu Beginn geschätzt worden, dass etwa 300 Personen in die Messe übersiedelt seien – bei späteren Zählungen stellte sich heraus, dass es tatsächlich nur um die 250 gewesen waren.

Zur leichteren Handhabung der unübersichtlichen Lage seien den geflüchteten Personen zusätzlich zum Namen die jeweiligen Kojen-Nummer zugeteilt worden. „Dass eine solche Nummerierung von Menschen eine dunkle Konnotation in Erinnerung rufen kann, war uns durchaus bewusst.“ Aber die chaotischen Umstände hätten zu solch „makabren Maßnahmen“ geführt.

Bild: Sim Singer

Weiters kritisiert sie: „Medizinische Indikationen, dass alle 250 Personen Verdachtsfälle sind, gab es nicht.“ Scheinbar seien „trotzdem alle 250 als sogenannte K1-Personen qualifiziert worden, also als Personen die unmittelbaren Kontakt zu einer infizierten Person hatten.“ Die Informationslage sei unklar gewesen und die Entscheidungsfindung intransparent. „Wer für was zuständig sei und wie die Kompetenzverteilung ausschaut, wusste keiner so genau und ist den Mitarbeiter_innen in der Messe imer noch unklar.“ Was aber allen klar sei: „Das Gesundheitsamt der Stadt Wien und die die MA15 haben hier versagt.“

Quarantäne ohne Rechtsgrundlage?

Die Personen seien zuerst in Halle C und dann in Halle D unter Aufsicht von Security und Polizei festgehalten worden. Erst nach einigen Tagen sei die gesamte Halle C getestet und dabei geordnet in die Halle D geschleust worden. Die Betroffenen hätten erst danach erstmals einen schriftlichen Absonderungsbescheid erhalten.

Solch ein Bescheid wird in Folge eines positiven Covid-19 Tests oder eines Ansteckungsverdachts ausgestellt. In Folge muss sich die betroffene Person für eine gewisse Zeit in Quarantäne begeben. In erstem Fall ist die Entlassung an zwei negative Testungen gebunden, im zweiten mit Zeitablauf von 14 Tagen befristet.

Die gesetzlich verpflichtende Quarantäne kann im Zweifel auch mit staatlichem Zwang und Gewalt durchgesetzt werden. Was die Rechtsgrundlage für die ersten vier Tage mehr oder weniger „unfreiwillige“ Quarantäne war, ist aus juristischer Sicht unklar. Laut dem Sprecher des Krisenstabs seien die Bescheide mündlich ergangen.

Wenige Tage später seien die Testergebnisse bekannt gegeben worden. Unter den 250 getesteten Personen seien erfreulicherweise nur zwei positiv getestet worden, die dann in die Halle A transferiert worden seien. Gleichzeitig wird damit die gesamte Problematik der Übersiedelung aus dem Haus Erdberg sichtbar.

Dort gab es Ein- und Zweibettzimmer und damit gute Möglichkeiten zur Isolierung. Im Massenlager Messe dagegen waren hunderte Menschen auf engem Raum versammelt, die Mindestabstände konnten dort wohl kaum durchgegehend eingehalten – damit wurden viele Menschen einem potentiellen Infektionsrisiko ausgesetzt.

Entzug in Quarantäne

Ebenfalls in die Quarantäne gesteckt worden seien Menschen, die regelmäßig Medikamente benötigten – darunter auch rund 80 suchtkranke Menschen auf Entzug. „Die Informationslage darüber beim medizinischen Personal war enorm schlecht, den Menschen wurde nicht die notwendige medizinische Betreuung zur Verfügung gestellt“, sagt eine Mitarbeiterin. Nicht korrekt fortgeführte Substitutionstherapien hätten zu Wallungen und unberechenbaren Situationen geführt. „Das hat von Beginn an zu einer aufgeheizten Stimmung geführt“, sagt eine Mitarbeiterin.

Eine anschließende teilweise Verlegung der betroffenen Personen hätte die Lage aber vorerst beruhigt. Dem Sprecher des Kristenstabes ist diese Problematik nach seiner Aussage nicht bekannt.

Ramadan und Schweinefleisch

„Auch die Essensausgabe war eine enorme Herausforderung“ sagt eine Mitarbeiterin. „Es mangelte weniger an Quantität als an Qualität“, sagt sie. „Das in der Eile einmal servierte Schweinefleisch für Muslim_innen stellte dabei das geringste Problem dar, das haben wir zumindest sofort korrigiert.“ Doch oft wurden ähnliche oder gleiche Gerichte mehrmals serviert. Da einzelne Personen Essenspenden aus Traiskirchen oder von Familienmitgliedern erhielten, sei das gelieferte Fertigessen übergeblieben und sei am nächsten Tag nochmal serviert worden.

Eine Verteilung des Essens wie bei einem Buffet konnte es aus gesundheitlichen Gründen nicht geben. Das Essen sei deshalb von Mitarbeiter_innen zur jeweiligen Koje gebracht worden. Während des Ramadans hätte es eine zusätzliche Essensausgabe in der Nacht gegeben.

„Das war zu Beginn sehr chaotisch, da nicht immer ersichtlich war wer überhaupt praktizierender Muslim war und in welchen Kojen die jeweiligen Menschen schliefen oder aufs Essen warteten“, sagt ein Mitarbeiter einer Rettungsorganisation. In der konkreten Situation war vieles wohl tatsächlich unmittelbar nicht besser lösbar – doch die Frage muss gestellt werden, ob all das im Haus Erdberg mit gewachsenen Strukturen nicht viel besser lösbar gewesen wäre.

Solidaritätsdemo vor der Messe Wien am 10. Mai 2020. Bild: Presseservice Wien

Die komplett unklare Lage und die teils als unfair empfundene Versorgungssituation hätten zur Eskalation der Lage und zu „aufstandsähnlichen Tumulten“ beigetragen, sagt eine Mitarbeiterin. Zur Verschärfung der Lage hätte auch der Mangel an Zigaretten beigetragen. Das war aber nur „der berühmte Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt“ und nicht der eigentliche Grund, sagt uns eine Mitarbeiterin. Ähnlich wie im Gefängnis hätten Zigaretten ein Sondergut dargestellt.

Es gab zwar eine Zigarettenausgabe, die von Mitarbeiter_innen der Rettungsorganisationen verwaltet wurden, jedoch begrenzt auf drei Zigaretten pro Tag und pro Person – für viele Menschen, die schwer von Nikotin abhängig sind, viel zu wenig. Das Familienmitglieder ihre Angehörigen mit „Care-Packerln“ versorgen durften, hätte dazu geführt, dass einzelne Menschen ein viel höheres Kontingent hatten – eine problematische Schieflage wäre entstanden.

Die Situation sei kurz vor der Eskalation gestanden, es sollen sogar Steine geflogen sein. Securitys hätten schon in Erwägung gezogen, mit einem privaten „Großeinkauf an Tschick“ zumindestens an dieser Stelle Abhilfe zu schaffen und zu deeskalieren.

Fehlende Hygiene-Möglichkeiten

Ein weiterer Mitarbeiter erzählt: „Die hygienischen Bedingungen sind keinesfalls ideal. Zum Waschen gibt es Container-Duschen, die aber eigentlich für den Outdoor-Gebrauch vorgesehen sind. Die Folge sind übergelaufene Duschen und Wasser, dass die Messe-Halle zu überfluten drohte. Teilweise gab es nur kaltes Wasser, was für die Stimmung nicht gerade förderlich war. Das Klima hat sich durch den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten noch weiter verschlechtert. Erst nach einer Woche kam die Hallenleitung auf die Idee, Gesellschaftsspiele und Stofffußbälle zur Verfügung zu stellen.“

Bild: Sim Singer

Laut dem Mitarbeiter kommt hinzu, dass es kaum bis gar keine Privatsphäre gegeben hätte. „Noch dazu waren viele der Geflüchteten schwer traumatisiert und wurden ohne psychologische Betreuung in die Halle einquartiert.“ Er prangert an: „Das war eine Kumulation von denkbar schlechten Umständen, die die Gesamtlage sehr prekär und brenzlig machte.“

Angebliche Fluchtversuche // Fake News des Innenministeriums?

Am Donnerstag, dem 7. Mai, berichten mehrere große Medien über angeblich 28 abgängige Asylwerber_innen aus der Messe. Mutmaßlicher Urheber der frei erfundenen Falsch-Informationen sei das Innenministerium unter Karl Nehammer (ÖVP) gewesen, behauptet Zack Zack, das Medium von Peter Pilz, ehemals Liste Jetzt. Stefanie Krisper von den Neos kündigte auf Twitter an, eine parlamentarische Anfrage zur Causa zu stellen.

Der Krisenstab der Stadt Wien stellte schnell klar, dass die Nachricht nicht stimmen würde. Viele Online-Beiträge wurden korrigiert und als Falschmeldung gekennzeichnet. Über Nacht verschwanden dann sogar die meisten Online-Beiträge oder waren zur Gänze umgeschrieben. Doch die Botschaft war natürlich bereits bei vielen tausend Leser_innen angekommen.

Wie geht es weiter?

Nach einer weiteren Testserie erhielten am Donnerstag, dem 14. Mai, um 23:59h alle Personen aus der Halle D die Erlaubnis, die Halle zu verlassen, sofern sie negativ getestet waren. Nur zwei Personen sollen noch auf einen zweiten Test warten müssen, der auf Grund einer Namensverwechslung im Labor wiederholt werden müsse.

Die Mitarbeiter_innen mit denen wir am Mittwoch Gespräche führten, hatten bereits zu diesem Zeitpunkt gerüchteweise von einer Entlassung der betroffenen Menschen gehört und zeigten sich sehr erleichtert. Eine Mitarbeiterin etwa sagte uns: „Hoffentlich ist der Spuk dann endlich vorbei.“

Es ist völlig klar, dass in einer Situation, wo sehr schnell viele Entscheidungen fallen müssen, nicht alles glatt laufen kann. Doch die Situation in der Messe zeigt gleichzeitig, wie problematisch solche Massen-Quarantänelager sind. Auch das könnte künftig nicht immer vermeidbar sein. Doch es muss die Frage gestellt werden, warum als erstes geflüchtete Menschen betroffen sind.

Auch in Altersheimen in Österreich gibt es bereits COVID-19-Verdachtsfälle. Doch dort wird auf Quarantäne in den Zimmern gesetzt. Eine Räumung der Heime und eine Verlegung in Massenlager findet nicht statt – und dafür gibt es zweifellos gute Gründe. Warum das nicht auch im Fall Erdberg geschehen ist, bleibt unklar. Der Verdacht von strukturellem Rassismus drängt sich auf.

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