In der Nazi-Zeit stand mitten in Wien ein großes KZ. Mindestens 2000 Menschen wurden dort geschunden, bekannte Konzerne profitierten. Heute stehen am ehemaligen KZ-Gelände ein Fußballstadion und ein Tennisplatz. Reden wollen darüber die wenigsten.
Diese Recherche ist ein wenig länger als übliche journalistische Artikel. Doch wenn Du Dich für die Geschichte eines bisher kaum bekannten KZ mitten in Wien interessierst: Nimm Dir ein wenig Zeit für die verborgenen Spuren der Vergangenheit. Sie reichen bis in die Gegenwart. Vielen Dank an alle, die standpunkt.press unterstützen und damit diese Recherche möglich gemacht haben.
„Ausgleich! Ausgleich!“, rufen die Fans. Trommelschläge hallen über den Platz. Doch wenig später ist die Partie vorbei: Der Floridsdorfer Athletiksport-Club (FAC) hat sein Heimspiel gegen den SV Horn knapp mit 0:1 verloren. Trotz dieser Niederlage im November 2023 ist der FAC in der zweithöchsten österreichischen Spielklasse, der „Liga Zwa“, weiterhin gut unterwegs.
Der Verein aus dem Wiener Arbeiter:innenbezirk Floridsdorf ist ein Ausbildungsverein, dort spielte in seiner Jugend etwa der heutige Inter Mailand-Legionär Marko Arnautović. Inzwischen hat der FAC Aufstiegsambitionen, würde gern erstklassig spielen. Und wer weiß schon, was die Zukunft bringt?
Nachdem die letzten Fans den Sportplatz verlassen, senkt sich Ruhe über das FAC-Stadion in der Hopfengasse. Das Flugzeug, das rund 20 Minuten nach Spielbeginn fast direkt über das Feld geflogen ist, hat in der Hitze des Spiels wohl niemand wahrgenommen. Kein Wunder, es war nur ein kleines Privatflugzeug. Am Morgen des Vortags dagegen war der Fluglärm wohl deutlich stärker zu vernehmen: Da schraubte sich eine große Passagiermaschine über dem Stadion in die Höhe.
Der Airbus fliegt über den Himmel von Floridsdorf
Es ist der Flug EW7753 von Wien nach Hamburg. Geflogen wird diese Destination mit einer der beliebtesten Maschinen der Flugzeugindustrie: Einem A319 von Airbus. Airbus, das ist ein großer internationaler Konzern, zusammengekauft und fusioniert aus verschiedenen Firmen in Deutschland, Frankreich und Spanien. Eine davon: Die früheren Ernst Heinkel Flugzeugwerke. Im NS-Regime war Heinkel mit seinen Kampfflugzeugen einer der wichtigsten Rüstungsbetriebe.
Nach dem Ende des FAC-Spiels verlassen die meisten Fans das Stadion in Richtung Prager Straße. Einst war das die zentrale Verbindungsroute von Wien nach Prag, heute verbindet dort die Straßenbahnlinie 26 die verschiedenen Bezirksteile. Nur einige wenige Fans gehen nach den Spielen die Hopfengasse entlang in die dünn besiedelte andere Richtung. Doch auch sie marschieren meist achtlos an einem kleinen Parkplatz vorbei, wo an einer alten Mauer eine unscheinbare Gedenktafel hängt.
Die beiden Türme wirken fehl am Platz
Es ist eine Metalltafel in knapp zwei Metern Höhe, montiert auf einem turmartigen Mauerteil aus rotbraunen Ziegelsteinen. Knapp daneben ein weiterer Turm, es sind offensichtlich Reste eines alten Eingangsportals. Rechts und links schließt ein Zaun an. Doch die beiden alten Türmchen wirken seltsam fehl am Platz. Genau hinter dem Zaun ist dann ein Tennisplatz zu erkennen, daneben ein Lokal, einige Meter weiter wirft bereits einer der großen Flutlichtmasten des Stadions sein Licht über das Spielfeld. Doch der Parkplatz liegt im Halbdunkel.
Und nur, wer sehr genau hinsieht, kann an diesem Novemberabend die Inschrift auf der Tafel erkennen: „An diesem Standort befand sich das KZ-Außenlager Wien-Floridsdorf – ein Nebenlager des KZ Mauthausen – in welchem von 13. Juli 1944 bis 1. April 1945 über 2.000 KZ-Häftlinge ausgebeutet wurden. Niemals vergessen!“ Neben dem Schild hat jemand einen Strauß mit Blumen angebracht. Daneben hängt ein Kranz, er ist vertrocknet.
Ausgebeutet für die Industrie – und kaum jemand weiß davon
Denn genau an diesem Ort in Wien-Floridsdorf befand sich einst ein großes Nazi-KZ. Hier wurden Menschen als Sklav:innen für die Rüstungsindustrie des Dritten Reiches zur Arbeit gezwungen. Geschunden wurden sie unter anderem für die Heinkel-Flugzeugwerke, die heute im Airbus-Konzern aufgegangen sind, oder für den bekannten Batteriekonzern VARTA.
Auf die Geschichte dieses KZ bin ich im Frühjahr 2022 zufällig gestoßen. Neonazis hatten versucht, sich beim FAC breit zu machen, ich hatte dazu recherchiert. Dabei habe ich erstmals von diesem KZ erfahren. Obwohl ich in Wien aufgewachsen bin, hatte ich davor noch nie davon gehört. Danach habe ich herumgefragt: Kaum jemand weiß heute noch etwas über dieses ehemalige Konzentrationslager mitten in Wien. Das sollte sich ändern.
Die Nazis verlegen die Rüstungsproduktion nach Wien
Das KZ Floridsdorf entsteht am 13. Juli 1944, formell ist es – wie fast alle bekannten KZ in Österreich – ein Außenlager des KZ Mauthausen. Es ist ein wesentlicher Grund, warum sehr viele Konzentrationslager in Österreich bis heute kaum oder gar nicht bekannt sind: In der breiteren Öffentlichkeit wurde das gesamte KZ-System nach 1945 unter dem Namen „Komplex Mauthausen“ zusammengefasst. Deshalb glauben die meisten Menschen bis heute, dass es auch nur in Mauthausen ein KZ gegeben hätte.
Doch tatsächlich gab es insgesamt über 40 Außenlager im System Mauthausen. Dazu kommen weitere Außenlager in Salzburg, der Steiermark, Tirol und Vorarlberg, die dem bayerischen KZ Dachau zugeordnet waren. Robert Vorberg vom Mauthausen Memorial sagt, die Reduktion auf Mauthausen sei „eine bewusste Entscheidung“ gewesen. Mit dieser – politisch sehr bequemen – Darstellung wurde und wird das gesamte KZ-System auf das oberösterreichische Mauthausen reduziert.
Das Lager Floridsdorf hat von Beginn an nur einen einzigen Zweck: Sklav:innen werden dort zur Arbeit für die Nazi-Rüstungsindustrie gezwungen. Aufgebaut wird das KZ aus Furcht vor alliierten Angriffen: Während deutsche Städte bereits von US- und britischen Luftstreitkräften bombardiert werden, ist das viel weiter südöstlich liegende Wien für die Nazis noch relativ lange „luftsicher“. Daher verlegen kriegswichtige Firmen wie der Flugzeughersteller Heinkel oder der U-Boot-Batterieproduzent AFA die Rüstungsproduktion zunehmend von Deutschland nach Wien. Zehntausende Menschen, Zwangsarbeiter:innen und KZ-Häftlinge, werden in Wien als Sklav:innen zur Arbeit gezwungen.
Zwangsarbeit am heutigen Flughafen Wien
Zwangsarbeit im NS-Regime, das bedeutet: Sklav:innenarbeit im Angesicht des permanent drohenden Todes. Heinkel und anderen Industriebossen ist das entweder egal, solange die Profite weiterlaufen. Oder sie teilen das Ziel der „Vernichtung durch Arbeit“ ohnehin auch selbst.
Ein großes Heinkel-Werk zum Bau von Kampfflugzeugen wird etwa in Schwechat errichtet, am Gelände des heutigen Flughafens Wien. Firmeninhaber Ernst Heinkel, ein Burschenschafter und Nazi, übersiedelt sogar persönlich nach Wien – laut dem Historiker und Heinkel-Experten Roman Fröhlich in eine „arisierte“ Villa in Wien-Hietzing. NSDAP-Mitglied Heinkel war schon vor Kriegsbeginn bestens vernetzt, so Fröhlich: Er hatte unter anderem persönliche Kontakte zu Hermann Göring, dem Befehlshaber der Deutschen Luftwaffe.
Die Nazis machen Heinkel gar zum „Wehrwirtschaftsführer“, es ist ein elitärer Kreis von nur wenigen hundert Person. Auch Heinkels Enkelsohn Jost ist „Wehrwirtschaftsführer“ – er wird das Unternehmen noch bis zu seinem Tod im Jahr 1961 leiten. Nur eine von vielen deutschen und österreichischen Kontinuitäten nach 1945.
Am heutigen Flughafen Wien standen zumindest bis vor einigen Jahren sogar noch Gebäude und ein Hangar der Heinkel-Werke, heißt es in einer älteren ORF-Dokumentation. Heute gibt es am Flughafen zwar einen Gedenkstein für die auf dem Areal eingesetzten Zwangsarbeiter:innen – doch dieses Denkmal ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich
Schwechat ist für die Nazis nicht mehr sicher
Doch bald beginnen auch im Großraum Wien Luftangriffe auf die Rüstungsfabriken. Spätestens nach gezielten Angriffen im April 1944 gilt das Heinkel-Werk in Schwechat den Nazis als nicht mehr sicher. Nun soll die Produktion dezentralisiert und getarnt werden.
Flugzeughersteller Heinkel bekommt nun verschiedene neue getarnte Produktionsstätten zur Verfügung gestellt. Da ist einerseits die Seegrotte in Mödling-Hinterbrühl, es ist ein ehemaliges Gipsbergwerk südlich von Wien. In der NS-Zeit war die Region Teil des „Reichsgau Wien“, heute liegt sie in Niederösterreich. Die Grotte wird nun für die Nazis zeitweilig trockengelegt. Heute wird sie als „Europas größter unterirdischer See“ beworben, wo sich die Besucher:innen „verzaubern“ lassen sollen.
„Größte Beliebtheit bei Besuchern jeden Alters“
Die Grotte würde sich „seit mehr als 80 Jahren größter Beliebtheit bei Besuchern jeden Alters“ erfreuen, heißt es. Wenn wir kurz zurückrechnen: Damit sind wir mitten in der Zeit der NS-Diktatur und der Zwangsarbeit. Die Sklav:innenarbeit wird auf der Homepage der Seegrotten-Betreiber:innen mit keinem Wort erwähnt.
Bei einem Besuch im Jahr 2011 habe ich vor Ort zwar ein Gedenkschild gesehen – doch die Führung wurde ohne Kommentar und Erklärung an diesem Schild vorbeigeführt. Auf meine damalige Anfrage wurde mir schriftlich erklärt, dass dazu „keine weitere Stellungnahme“ abgegeben würde.
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Brauereikeller werden zu geheimen Anlagen
Zusätzlich funktionieren die Nazis nun vor allem die Keller großer Brauereien zu geheimen Rüstungsfabriken um. Im Raum Wien fassen den Nazis vor allem zwei Anlagen ins Auge. Die mehrstöckigen Keller der noch heute bekannten Brauerei Schwechat, die damals der Industriellen-Dynastie Mautner Markhof gehört. Und die Braukeller in der Floridsdorfer Hopfengasse – ebenfalls im Besitz der Mautner Markhofs. Die gleichnamige Lebensmittelmarke ist in Österreich noch heute sehr bekannt, gehört seit 2002 allerdings einem deutschen Konzern.
Die Anlage in der Hopfengasse ist für die Zwecke der Nazis enorm gut geeignet: Über den Kellergewölben steht ein ganzer Braukomplex mit zahlreichen Nebengebäuden. Dazu gibt es Bahngleise, wichtig für Materialtransporte. Bei der Prager Straße, also gleich um die Ecke, gibt es sogar einen eigenen Bahnhof: Den inzwischen abgerissenen Bahnhof Jedlesee Und schließlich ist in der Hopfengasse auch ein Fußballstadion, also ein zusätzliches Freigelände.
Wie wichtig die Rüstungsproduktion des Lagers Floridsdorf für die Nazis ist, zeigt sich etwa am 4. Juli 1944. Da besucht sogar NS-Rüstungsminister Albert Speer persönlich die Produktionsstätten.
Sklav:innenarbeit für die Kriegsindustrie in Floridsdorf
Während die Seegrotte ausgepumpt und adaptiert wird, werden große Teile des Schwechater Heinkelwerkes provisorisch auf Brauereikeller in Wien aufgeteilt. Hauptstandort: Die Keller der Bierbrauerei und Lebensmittelfirma Mautner Markhof in Wien-Floridsdorf.
Rund 200 KZ-Häftlinge müssen also ab Mai 1944 an der Adaptierung der Braukeller in der Hopfengasse arbeiten, wie Bertrand Perz für das 2006 erschienene Standardwerk „Der Ort des Terrors, Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“ schreibt. Der Verein „Niemals vergessen“ geht davon aus, dass die ersten Häftlinge in Kellern der St. Georgs Brauerei in der nahegelegenen Prager Straße 20 interniert wurden. Dieser Komplex gehörte ebenfalls zu Mautner Markhof.
Bis zu 2000 Menschen müssen hier Zwangsarbeit verrichten
Am 13. Juli 1944 schließlich wird das bisherige Heinkel-Lager Schwechat in das neue KZ in den Floridsdorfer Bezirksteil Jedlesee verlegt. Die Dimensionen zeigen die Bedeutung des Standorts für die Nazis und die Rüstungsindustrie: Allein an diesem ersten Tag kommen 1993 Häftlinge in das Lager in der Hopfengasse. Der Höchststand für den gesamten Komplex Wien-Floridsdorf samt Lagern in Niederösterreich beträgt 2737 Häftlinge. Die Mehrheit dieser Menschen wurde laut dem Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ) aus Polen und der Sowjetunion verschleppt.
Wieviele Menschen genau in welchem Lager arbeiten mussten, ist heute nicht mehr genau klärbar. Die SS hatte laut Historiker Perz „das Lager Floridsdorf in den Außenlagerstatistiken nicht nach Unterkommandos“ erfasst. Als gesichert kann gelten, dass nach der Fertigstellung der Stollen in der Seegrotte Hinterbrühl ein Teil der Häftlinge aus Floridsdorf wieder dorthin überstellt wurde.
Dennoch gibt es Hinweise auf die Zahl der Menschen, die noch danach als Sklav:innen in Floridsdorf arbeiten mussten. Laut Perz würden sich wichtige Rückschlüsse aus späteren Häftlingsaussagen sowie der Belegung zum Zeitpunkt der Auflassung der Lager ziehen lassen: „In der Seegrotte waren demnach bis zu 1600 Häftlinge eingesetzt, in Floridsdorf in allen Arbeitskommandos etwa 800.“ Die mutmaßliche Verteilung der Wiener Gefangenen: Rund 400 Häftlinge mussten für Heinkel Zwangsarbeit leisten. Rund 400 weitere schufteten für den Batteriehersteller AFA. Der hatte seine Produktionsstätte auf dem Floridsdorfer Fabrikgelände der Maschinenfabrik Hofherr & Schrantz.
Ein KZ direkt neben dem Fußballstadion
Die Hopfengasse muss damals vielen Menschen in ganz Wien ein Begriff gewesen sein – vor allem der fußballinteressierten Bevölkerung: Denn 1933 hatte der frühere Floridsdorfer Fußballverein Admira den Sportplatz in der Hopfengasse übernommen und zu einem Stadion ausgebaut. Und die Admira ist in dieser Zeit eine große Nummer im österreichischen Fußball:
In den 1920er und 30er Jahren gewinnt der Verein immerhin sechsmal die Wiener Liga, die damals einzige österreichische Profiliga. Erst in den 1960er Jahren wird der heutige Zweitligist nach Mödling ins südliche Wiener Umland übersiedeln. Danach übernimmt ab 1966 Lokalrivale FAC das Stadion. Aktuell trägt auch der SV Stripfing seine Heimspiele am FAC-Platz aus – seit dieser Saison der Zweitliga-Kooperationsverein der Wiener Austria.
Heute ist die Zuständigkeit für das Gelände geteilt: Der FAC betreibt dort das Stadion, daneben gibt es einen Tennisclub. Eigentümerin der Sportanlage ist die Stadt Wien. Die vielen (und wechselnden) Verantwortlichen sind wohl ein wesentlicher Grund, warum das KZ bis heute so unbekannt ist: Offenbar fühlt sich niemand so wirklich zuständig. Doch dazu später noch mehr.
„Man konnte die Baracken am Admira-Platz bestens sehen.“
Das KZ muss in der lokalen Bevölkerung bekannt gewesen sein. Sehr aufschlussreich ist dazu ein Plan vom Juni 1944, der für wenige Sekunden in einer ORF-Dokumentation aus dem Jahr 2019 zu erkennen ist. Wo genau welches Gebäude damals stand, ist zwar mangels Straßenbezeichnungen und Umgebung aus diesem Plan nicht abzuleiten. Doch gut erkennbar sind das umzäunte Lager samt Baracken, Appellplatz, Nebengebäuden und Unterkünften für die Wachkompanie und die SS. Sogar der Stacheldraht ist auf dem Plan extra eingezeichnet.
Gegenüber liegt die Brauerei mit dem Vermerk „Fa. Heinkel in den Kellerräumen“. Und unmittelbar neben diesem Komplex zeigt der Plan den „Sportplatz Admira Wien“. Alliierte Luftaufnahmen aus dem Jahr 1945 bestätigen, dass dieser Plan korrekt ist.
Am 10. Dezember 1944 etwa spielte die Admira zum Auftakt der Saison 1944/45 vor rund 4000 Zuschauer:innen am Admira-Platz gegen Rapid. Der Wiener Sporthistoriker Matthias Marschik sagt, dass auf dem Platz „bis in den März 1945 und dann wieder ab Juli 1945 gespielt wurde“. Das KZ war nur wenige Meter vom Spielfeld und den Zuschauer:innen entfernt.
Ein altes Foto zeigt vermutlich sogar ein Spiel auf diesem Platz. Im Hintergrund könnten die KZ-Baracken zu erkennen sein. Marschik sagt jedenfalls: „Man konnte die Baracken als Spieler oder Matchbesucher am Admira-Platz bestens sehen.“
Ein weiteres unbekanntes Lager
Ein erstes Zwangsarbeitslager dürfte es in der Hopfengasse bereits vor dem Juli 1944 gegeben haben: In einer Liste der Klinik Ottakring (dem früheren Wilhelminenspital) werden bereits ab 1942 sowjetische Sklavenarbeiter:innen aufgeführt, die in der Hopfengasse interniert waren. Doch über dieses Lager sind keine weiteren Aufzeichnungen zu finden.
Erst ab Juli 1944 ist das Lager Floridsdorf gut dokumentiert. Auch die Kommandantur der SS für den gesamten Lagerkomplex Floridsdorf wird dann in der Hopfengasse eingerichtet. Das umzäunte KZ-Gelände hatte damals die Adresse Hopfengasse 22. Das Problem: Im offiziellen Stadtplan der Stadt Wien ist diese Adresse heute einfach nicht mehr vorhanden.
Wo genau war das Lager?
Nach 1945 hat sich in der Gegend vieles verändert. Heute gibt es nach dem Stadion auf Hausnummer 8 nur noch eine einzige weitere Hausnummer in der Hopfengasse: Den „Kleingartenverein Mautner Markhof“ mit der Hausnummer 63. Wo genau war also das Lager und wie hat es ausgesehen? Erst alte Karten und alliierte Luftaufnahmen geben Antworten.
Ein „Bräuhaus“ gegenüber dem heutigen Stadion ist bereits in einer Karte aus dem Jahr 1872 zu finden: Es ist ein großer Komplex mit mehreren Höfen. Im Wiener Generalstadtplan von 1912 sind dann auf der anderen Straßenseite sogar schon Baustrukturen erkennbar, die dem späteren KZ-Grundriss sehr ähnlichsehen. Der Zweck bleibt unklar.
Das KZ-Erbe auf dem Areal der Mautner Markhofs
Ein Grundriss, vermutlich aus dem Jahr 1926, zeigt das spätere KZ-Gelände dann bereits sehr genau: Es ist damals ein Wirtschaftshof. Das Gelände samt dem gegenüberliegenden Bräuhaus gehört zu diesem Zeitpunkt noch der Brauerei Dengler, 1928/29 wird Dengler mit den Mautner Markhof-Brauereien fusioniert. Ich habe auf der Familienseite der Mautner Markhofs nachgesehen: Es gibt dort zwar drei sehr ausführliche Artikel zur Geschichte der Bräufabriken in Floridsdorf und Schwechat (hier, hier und hier). Doch nur in einem der drei Artikel habe ich überhaupt einen Hinweis auf die KZ-Anlagen gefunden – es sind zwei dünne Sätze.
Ich habe bei der Familie Mautner Markhof angefragt: Ob sie sich damit auseinandergesetzt hätte, dass auf Firmengelände ein KZ aufgebaut worden ist. Und inwiefern nach 1945 Entschädigungszahlungen für die Zwangsarbeiter:innen geleistet wurden oder ob es andere Maßnahmen gegeben hätte. Die Mautner Markhofs beantworten meine Anfrage mit einem Verweis auf das Floridsdorfer Bezirksmuseum und damit, dass Familienmitglieder von den Nazis „sogar selbst verhaftet und zeitweise eingesperrt“ worden seien. Außerdem hätte die Familie, so Viktor Mautner Markhof, „keine Zwangsarbeiter beschäftigt“.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Familienerbe Georg Mautner Markhof übrigens auch Nationalratsabgeordneter: Von 1990 bis 1992 saß er für die Haider-FPÖ im Parlament. Danach war er noch bis zu seinem Austritt im Jahr 1995 für die FPÖ-Abspaltung „Liberales Forum“ aktiv (das LiF ist später in den NEOS aufgegangen).
Genau dort, wo heute Fußball und Tennis gespielt wird
Zwei alliierte Luftaufnahmen von Februar und März 1945 zeigen die KZ-Anlage Floridsdorf dann während der NS-Zeit. Das KZ, der Brauerei-Komplex sowie das Stadion sind klar identifizierbar. Auf den Bildern sind auch eindeutige Bombentreffer zu erkennen.
Das KZ ist auch kurz nach dem Krieg noch deutlich sichtbar: Im sogenannten Kriegsschädenplan von 1946 ist zwar das Stadion nicht eingezeichnet – warum, das ist unklar. Ich habe beim Landesarchiv der Stadt Wien nachgefragt: Weitere genaue Karten aus dieser Zeit sind nicht verfügbar. Doch das ehemalige KZ-Gelände ist auf dem Plan von 1946 weiterhin eindeutig erkennbar.
Wenn wir nun die alten Pläne und Luftaufnahmen über eine aktuelle Satellitenaufnahme von Google Maps legen, können wir eindeutig herausfinden, wo das umzäunte KZ-Gelände aufgebaut war: Genau dort, wo damals die KZ-Baracken standen, steht heute einerseits das Trainingsgelände des FAC mit Nebengebäuden und dem zweiten Spielfeld. Und andererseits ein Grilllokal sowie der Tennisclub Tennisrevo mit seinen fünf Plätzen.
Was die Karten übrigens ebenfalls belegen: Die Adresse des früheren KZ ist ident mit der Adresse des heutigen Sportgeländes. Nur die damalige Hausnummer 22 wurde irgendwann nach 1946 zur Nummer 8 verändert.
Die SS-Kommandantur in Floridsdorf
Das große Brauhaus mit den darunter liegenden Kellern existiert heute nicht mehr, es wurden wohl spätestens 1978 abgetragen. Inzwischen steht an dieser Stelle eine Wohnanlage. Doch einen Überrest des früheren Brauerei/KZ-Komplexes gibt es bis heute: Den ehemaligen Braugasthof „Zum Gambrinus“, genau an der Ecke von Prager Straße und Hopfengasse, nur wenige Meter entfernt vom FAC-Stadion. In diesem Haus ist heute ein Restaurant für orientalische Spezialitäten.
Wo die SS-Kommandantur einquartiert war, ist dagegen unklar. Das MKÖ geht davon aus, dass diese ebenfalls am heutigen Stadiongelände war. Allerdings war die Brauerei, wo das MKÖ die SS-Kommandantur verortet, auf der anderen Straßenseite. Das wäre auch wahrscheinlicher, weil im dortigen Braukomplex größere Gebäude zur Verfügung standen.
Das sieht auch Wolfgang Strizinger so, der sich intensiv mit der Geschichte des KZ auseinandergesetzt hat. Diese Frage bleibt also offen. Doch gesichert ist, dass die SS-Zentrale für den gesamten KZ-Komplex Floridsdorf ebenfalls im Bereich Hopfengasse war.
Von Nazi-Kampfflugzeugen über den Abfangjäger bis zum Airbus
Ab Juli 1944 werden die neu in Floridsdorf eingetroffenen Sklavenarbeiter:innen nun für die Rüstungsindustrie der Nazis ausgebeutet: Sie müssen für die Firmen Heinkel, AFA sowie mutmaßlich auch für Hofherr & Schrantz arbeiten. Bei Heinkel bauen sie Kampfflugzeuge. In der Akkumulatorenfabrik-Aktiengesellschaft (AFA) produzieren sie kriegswichtige Batterien für U-Boote und Raketen. Und der Motorenhersteller Hofherr & Schrantz produziert Steuerungselemente für jene V2-Raketen, die die Nazis in ihrer Propaganda zur „Wunderwaffe“ verklären.
Die Namen all dieser Firmen sind heute in der Öffentlichkeit nicht mehr bekannt – doch ihre Spuren lassen sich bis in die Gegenwart verfolgen. In der NS-Zeit baute Heinkel Flugzeuge für den Faschismus. Für die Nazis war vor allem der Bomber „He-111“ von enormer strategischer Bedeutung.
Vom Massaker in Guernica zum Wirtschaftsaufschwung
Erstmals hatten die Nazis diese Maschine im spanischen Bürger:innenkrieg erprobt. Beim berüchtigten Angriff der deutschen Luftwaffe auf die baskische Stadt Guenica am 26. April 1937 waren Henkel-Bomber im Einsatz. Die Nazis ermordeten dort hunderte Menschen. Pablo Picasso hat dieses Massaker später in einem berühmt gewordenen Bild verarbeitet.
Trotz ihrer zentralen Verwicklung in den Faschismus konnte die Firma nach dem Zweiten Weltkrieg ungebrochen weiterarbeiten. Berühmt waren etwa die Motorroller der Firma: Die sogenannten „Heinkel-Roller“ wurden zu Symbolen des Wirtschaftsaufschwungs der Nachkriegszeit. Doch die Konzentrationsprozesse des Kapitalismus machten auch vor Heinkel nicht halt: Heute ist die Firma nach verschiedenen Fusionsprozessen in Airbus aufgegangen – laut dem Fachmagazin Produktion das viertgrößte Luft- und Raumfahrtunternehmen der Welt.
Rüstung, damals und heute
Weit weniger bekannt: Airbus ist auch im Waffengeschäft enorm engagiert und inzwischen zum zweitgrößten Rüstungskonzern der EU aufgestiegen. Vor allem Menschen in Österreich sollten jetzt hellhörig werden: Denn den Namen „Airbus“ trägt der Konzern erst seit Anfang 2014.
Davor hieß die Firma EADS – dort hatte 2002 die damalige schwarz-blaue Regierung Kampfflugzeuge gekauft, die sogenannten Eurofighter. Es folgte ein Skandal um behauptete Bestechungen, der seitdem die Politik und die Gerichte beschäftigt. Einige der Verfahren laufen bis heute, für alle involvierten Personen gilt die Unschuldsvermutung. Auf meine Anfrage zum ehemaligen KZ Floridsdorf hat Airbus nicht geantwortet.
Die Konzerne gibt es bis in die Gegenwart: Voestalpine und VARTA
Doch nicht nur bei Heinkel/Airbus reichen die Verbindungen bis in die Gegenwart. So geht Hofherr & Schrantz nach dem Weltkrieg vermutlich zuerst in den Böhler-Werken und dann im Stahlkonzern Voestalpine auf. Doch laut Konzernsprecherin Karin Keplinger gäbe es im Archiv „keine Unterlagen zu diesem Konzentrationslager in Wien“. Auf die Frage, ob Hofherr & Schrantz in der Voestalpine aufging, erhalte ich keine Antwort. Die AFA existiert sogar durchgehend bis heute – seit 1962 tritt sie allerdings unter dem Namen VARTA auf.
Mehrheitseigentümer dieses bekannten Batteriekonzerns ist inzwischen die „Montana Tech“ des österreichischen Milliardärs Michael Tojner. Einen Bezug zum Fußball gibt es übrigens auch hier: Tojner ist Großsponsor und Präsidiumsmitglied des Wiener Fußballklubs Rapid. So trägt etwa das Rapid-Nachwuchszentrum offiziell den Namen „Körner Trainingszentrum powered by VARTA“. Über der Anlage prangt ein großes VARTA-Logo.
Auch von VARTA heißt es heute, dass es „durch die diversen Brüche kein zusammenhängendes Archiv mehr“ gäbe. Meine Frage, ob und welche Schritte es zur Entschädigung der Zwangsarbeiter:innen gegeben habe, wird nicht beantwortet.
Die Sklavenarbeiter:innen werden über den Bezirk verteilt
Wenn wir heute vom KZ Floridsdorf sprechen, müssen wir tatsächlich von einem KZ-Komplex sprechen. Denn da sind einerseits die verschiedenen Einrichtungen in der Hopfengasse, deren genauer Standort sich teils wohl auch veränderte. Dazu wurden auch die Heinkel-Zwangsarbeiter:innen in Mödling-Hinterbrühl offiziell zum Lager Floridsdorf gezählt. Manche Fragen sind dabei heute nur noch schwer zu klären.
So wurde das Barackenlager in der Hopfengasse 8 offenbar Ende 1944 durch einen alliierten Luftangriff zerstört. Daraufhin könnten die KZ-Häftlinge auf dem Firmengelände von AFA/Hofherr & Schrantz in der Shuttleworthstraße interniert worden sein. Ausweichbaracken wurden auch am Jedlersdorfer Platz 25 aufgebaut – inzwischen ebenfalls ein Sportplatz im Besitz der Stadt Wien. Heute spielt dort der lokale Fußballverein „1210 Wien„.
Heute ist es ein Parkplatz
Fotos des früheren Komplexes von AFA/Hofherr & Schrantz in der Shuttleworthstraße finden sich übrigens noch hier und hier auf der Seite geheimprojekte.at. Zumindest bis vor einigen Jahren existierten auch noch einzelne Reste der Fabriksgebäude. Wo heute in der Shuttleworthstraße ein Supermarkt-Parkplatz ist, standen einst vermutlich Baracken des KZ Floridsdorf.
Schließlich wurden die Sklavenarbeiter:innen laut dem Verein „Niemals vergessen“ erneut „in den Braukellern“ untergebracht. Historiker Perz dagegen meint, dass oberirdische Räumlichkeiten bei den Brauereikellern als Unterbringungsort gedient hätten. Faktisch kann natürlich beides richtig sein, dann hätte es mehrere Internierungsorte gegeben. Doch die oberirdischen Räumlichkeiten verdienen eine nähere Betrachtung – denn Überreste könnten heute noch stehen.
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Eine KZ-Baracke könnte heute noch stehen
Keine zweihundert Meter vom FAC-Stadion entfernt, in der Hopfengasse 63, ist heute der „Kleingartenverein Mautner Markhof“. Die Siedlung sei „unmittelbar nach den Zweiten Weltkrieg“ auf Mautner Markhof-Gründen erbaut worden, heißt es auf der Familienwebsite der Mautner Markhofs. Der „Zentralverbands der Kleingärtner und Siedler Österreichs“ schreibt, die Siedlung sei nach 1945 „auf dem Gelände eines ehemaligen Gefangenenlagers“ angelegt worden. Es klingt etwas verharmlosend.
Dazu, so der Zentralverband, sei damals auch „eine Baracke“ gekauft und saniert worden, sie würde „noch heute als Vereinshaus“ dienen. Möglicherweise handelt es sich um eine ehemalige KZ-Baracke. Nun können die heutigen Kleingärtner:innen selbstverständlich nichts für die Geschichte des Areals.
Und es ist auch nachvollziehbar, dass nach Kriegsende in der damals akuten Wohnungsnot das leerstehende Areal genutzt wurde. Doch wünschenswert wäre, zumindest dessen Geschichte für die Nachwelt festzuhalten. In der KZ-Gedenkstätte Mauthausen lagern seit 1995 übrigens mögliche Überreste einer Häftlingsbaracke aus Floridsdorf.
Über 600 Zwangsarbeitslager in Wien
Möglicherweise haben noch weit mehr Firmen in Wien von Zwangsarbeit aus dem KZ Floridsdorf profitiert. Im Jahr 2019 hat die Stadt Wien eine interaktive Karte aller bekannten Wiener NS-Zwangsarbeitslager veröffentlicht – es sind mehr als 600. Die tatsächliche Zahl könnte noch weit höher liegen. Und hier geht es um enorm viele Menschen.
Anfang März 1945 werden in Wien zum letzten Mal Lebensmittelkarten für Zwangsarbeiter:innen ausgegeben. Es sind fast 100.000 Karten. Doch sogar damit sind noch lange nicht alle Betroffenen erfasst: KZ-Häftlinge, ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene erhalten keine Lebensmittelkarten. Im gesamten Gebiet des heutigens Österreichs wurden im NS-Regime laut einer Studie des Versöhnungsfonds aus dem Jahr 2005 rund eine Million Zwangsarbeiter:innen festgehalten. Diese unglaubliche Menge von Sklav:innen war eine wesentliche Voraussetzung, dass die Nazis den Krieg überhaupt bis 1945 weiterführen konnten. Und von dieser Sklav:innenarbeit profitierten viele Firmenbesitzer:innen nachhaltig – auch noch nach 1945.
Eine Million Zwangsarbeiter:innen im Gebiet des heutigen Österreich
Es sei „bisher nicht gelungen“, auch „nur einen einzigen größeren Betrieb des produzierenden Gewerbes zu finden, der während des Krieges keine ausländischen Zwangsarbeiter beschäftigt hat“. Das schreibt Ulrich Herbert im Jahr 2001 in einem Beitrag für das Buch „Die politische Ökonomie des Holocaus“. Die Initiative sei dabei „durchgehend von den Unternehmen“ ausgegangen. Wer keine Zwangsarbeiter:innen angefordert hätte, der hätte auch keine erhalten.
Die sieben größten Gruppen von Sklavenarbeiter:innen im heutigen Österreich, gereiht nach dem zahlenmäßigen Umfang: Sowjetbürger:innen, vor allem aus der heutigen Ukraine, dazu aus den heutigen Staaten Russland und Belarus, Kriegsgefangene, ungarische Jüd:innen, KZ-Häftlinge, österreichische Jüd:innen, Roma und Sinti sowie Österreicher:innen, die sich den Nazis widersetzt hatten, desertiert waren oder nicht in deren Weltbild passten – etwa Schwule und Lesben oder Menschen, die der „Rassenschande“ bezichtigt wurden.
Im Verhältnis zu dieser einen Million Menschen gab es damals laut Versöhnungsfonds im heutigen Österreich gerade einmal 1,7 Millionen weitere Arbeitskräfte. Niemand konnte die Zwangsarbeit übersehen. Alleine rund um die Wiener Hopfengasse finden sich auf der interaktiven Karte der Zwangsarbeitslager über 30 Arbeitslager.
Ein weiteres KZ?
Wer sich mit dem KZ-Komplex Floridsdorf beschäftigt, stößt hin und wieder auch auf ein „KZ Jedlesee“. Benannt ist es damit genau nach jenem Floridsdorfer Bezirksteil, wo auch die Hopfengasse liegt. Dass die beiden Lager allerdings faktisch unabhängig voneinander existierten, ist eher unwahrscheinlich. Tatsächlich hatten die Nazis drei „KZ-Kommandos“ für die Häftlinge in Floridsdorf eingerichtet: AFA, Hofherr & Schrantz und Jedlesee.
Der genaue Standort des Lagers Jedlesee ist dabei unklar: So hätte es laut der Lagerkarte der Stadt Wien seinen Sitz in der nahegelegenen Prager Straße gehabt, laut dem Geschichte Wiki der Stadt Wien dagegen direkt in der Hopfengasse. Vermutlich ist die zweite Deutung richtig und das Lager Hopfengasse war gleichzeitig das „Kommando Jedlesee“. Es ist nachvollziehbar, dass der Verein „Niemals vergessen“ meint: „Die Abgrenzung [vom KZ Floridsdorf] zum KZ-Außenlager Jedlesee ist nicht immer ausreichend möglich.“
Panzerproduktion – bis heute
Erschwert werden solche Spurensuchen dadurch, dass es neben dem KZ-Komplex Floridsdorf in Wien noch zahlreiche weitere Zwangsarbeitslager gab. Ein großer Profiteur war etwa der Fahrzeug- und Panzerhersteller „Saurer-Werke“ in Wien-Simmering. Neben den KZ-Kommandos Floridsdorf und Schwechat gab es sogar ein eigenes KZ-Kommando Simmering – am Höhepunkt mussten 1480 Menschen in den Saurer-Werken Zwangsarbeit verrichten.
Die Baracken zur Unterbringung standen dabei großteils auf dem Gelände des heutigen Gemüsegroßmarktes in der Haidestraße. KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter:innen wurden dort nochmals voneinander getrennt. Hintergrund waren die internen Logiken der Nazi-Administration: Die Zwangsarbeit brachte den verschiedenen Nazi-Institutionen politischen Einfluss und enorm viel Geld.
Somit hatten sie ein Interesse daran, die alleinige Kontrolle über ihre jeweiligen Zwangsarbeitskräfte sicherzustellen. Dazu gab es verschiedene Bewachungsgrade, auch nochmals unter den Zwangsarbeiter:innen: Einige durften ihre Arbeitsstätten verlassen. Sowjetbürger:innen und Pol:innen dagegen mussten auf Basis der sogenannten „Ostarbeiter-Erlässe“ durchgehend in den Lagern bleiben und auch einen Aufnäher mit der Aufschrift „Ost“ tragen.
Saurer ging später im Steyr-Konzern auf, heute ist die Rüstungssparte eine Tochter des US-Rüstungskonzerns General Dynamics. Und diese „Steyr-Daimler-Puch Spezialfahrzeug GmbH“ baut bis heute Pandur-Panzer für das österreichische Bundesheer. Im ehemaligen Saurer-Werk in Wien-Simmering.
Der brutale SS-Kommandant Streitwieser leitet das Lager Floridsdorf
Mit der Verlegung der SS-Kommandantur nach Floridsdorf kommt auch der berüchtigte SS-Obersturmführer Anton Streitwieser nach Wien. Geboren wird er 1916 ganz in der Nähe von Salzburg, im oberbayerischen Dorf Surheim. Streitwieser wird bereits mit 17 Jahren Mitglied der SS, im Mai 1935 erschießt er als Aufseher im KZ Dachau erstmals einen Menschen, wie der Wiener Historiker Winfried Garscha in einem Buchbeitrag über Täterbiografien in Mauthausen dokumentiert.
Als Angehöriger der SS-Totenkopfverbände zeigt Streitwieser in den Konzentrationslagern Dachau, Sachsenhausen und Mauthausen seine Menschenverachtung – und steigt so in der NS-Hierarchie auf. Laut mehreren Zeugen im späteren Prozess gegen Streitwieser hat er seinen Hund Hasso extra auf das Jagen von Menschen trainiert. Immer wieder werden Menschen im KZ Hunden vorgeworfen und zu Tode gebissen, zum Gaudium der SS.
Im oberösterreichischen KZ Mauthausen-Gusen ist Streitwieser dafür verantwortlich, dass Häftlinge trotz bitterer Kälte während der Arbeit kaum Kleidung tragen dürfen. Wer sich einer Feuerstelle nähert, wird brutal zusammengeschlagen. Am Abend werden die erfrorenen Menschen eingesammelt. Dem für diese Gräueltaten verantwortlichen Mann untersteht jetzt der Lagerkomplex Floridsdorf mit allen dort inhaftierten Menschen.
Folter, Erniedrigung, Mord
Die Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie ist potenziell tödliche Sklavenarbeit. Wer die Arbeitsleistung nicht erbringen kann, bekommt oft noch schwerere Arbeiten zugeteilt oder wird zurück nach Mauthausen geschickt. In vielen Fällen ein Todesurteil. Die Häftlinge bekommen trotz der Schwerarbeit zu wenig Essen, die Unterbringung ist mangelhaft.
Dazu kommt der Sadismus von SS und Wachmannschaften – Erniedrigung und Folter sind an der Tagesordnung. Eine spezielle Folter im Heinkel-Werk Schwechat: Menschen werden über Tage in enge Kisten eingesperrt. Zwangsarbeiterinnen werden häufig vergewaltigt. Denn das wird beim männlich geprägten Bild der Zwangsarbeit oft vergessen: Rund 30 Prozent aller Zwangsarbeiter:innen waren Frauen.
„Er hatte immer eine Peitsche dabei“
Iraida Schukowa wird als Kind gemeinsam mit ihrer Mutter zur Zwangsarbeit nach Wien verschleppt. In einem Interview im Jahr 2003 erzählt sie über einen Aufseher: „Er hatte immer eine Peitsche dabei. Man kann nicht die ganze Zeit gebückt arbeiten. Wenn du dich aufrichtest, ist er sofort mit der Peitsche zur Stelle.“ Das Mädchen aus einem Vorort von St.Petersburg (früher Leningrad) ist damals ungefähr 10 Jahre alt.
Eine Sammlung von Interviews mit sowjetischen Zwangsarbeiter:innen über ihre Zeit in Wien findet sich hier [die Seite ist leider nicht immer aufrufbar]. Die Interviews sind teils Russisch, teils Ukrainisch, über Google Translate können sie automatisiert übersetzt werden (wobei diese Übersetzungen nicht immer sehr gut sind). Eine deutschsprachige Interview-Sammlung ist (nach Anmeldung) hier verfügbar. Vielen Dank an dieser Stelle an die Ukrainerin Nina Nadeschda für die Übersetzungen aus dem Ukrainischen und Russischen!
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Auch Nadeschdas eigener Großvater war als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden, wie sie erzählt: „Er konnte flüchten und wurde bis Kriegsende von einer deutschen Familie versteckt.“ Nadeschdas Großvater hat den Krieg also zumindest überlebt. Doch viele andere Menschen wurden von den Nazis im Zwangsarbeits-System ermordet. Entweder direkt, indem sie abgeschlachtet wurden. Oder indem sie bis zum Tod durch Erschöpfung arbeiten mussten.
Sie töteten um die Wette
Auch in Floridsdorf wurden Menschen Opfer des millionenfachen Massenmord der Nazis: „Mindestens 80“ Menschen sind laut Historiker Perz während der Sklav:innenarbeit im gesamten Lagerkomplex „Wien-Floridsdorf“ einschließlich Schwechat und Hinterbrühl gestorben. Das MKÖ geht von zumindest 45 toten Häftlingen allein direkt in Floridsdorf aus.
Einige dieser Morde in Floridsdorf beschreibt Autor Hubert Mitter: Während des Morgenappells sind einige Häftlinge zu schwach, um noch stehen zu können. Daraufhin wetten Streitwieser und ein anderer SS-Mann: Wem wird es schneller gelingen, diese Menschen zu töten, indem sie ihnen ins Genick springen? Den Firmen ist es offenbar egal, solange die Leistungsziele erreicht werden.
Dazu kommen jene Zwangsarbeiter:innen, die bei alliierten Luftangriffen getötet werden. Der sowjetische Zwangsarbeiter Andrei Bagmut aus der heutigen Ukraine war vermutlich Partisan in den Nazi-besetzten Gebieten gewesen. Nachdem die Nazis ihn fassen, muss er als Zwangsarbeiter im AFA-Werk schuften. Er berichtet von einem Angriff, bei dem zahlreiche Zwangsarbeiter:innen sterben. Auch für diese Toten trägt das NS-Regime die Verantwortung.
Die Todesmärsche von Wien nach Mauthausen
Als die Rote Armee immer näher an Wien heranrückt, wird das KZ Floridsdorf am 1. April 1945 aufgelöst. Doch noch in diesen letzten Kriegstagen wollen die Nazis möglichst viele Menschen töten: Die Gefangenen werden in tagelangen Todesmärschen ins KZ Mauthausen getrieben. Viele brechen bereits am Weg zusammen und sterben. Und wer nicht mehr weiter kann, wird ermordet.
454 Häftlinge müssen aus dem Heinkel-Standort im Brauereikeller nach Mauthausen marschieren, 376 kommen aus dem AFA/VARTA-Werk. Allein am Marsch nach Mauthausen werden nach offiziellen Angaben 121 Menschen getötet. Alexander Prenniger hat es in seinem Buch „Das letzte Lager“ über die Todesmärsche aufgeschlüsselt: Es sterben 45 Menschen vom „Kommando Jedlesee“ sowie 76 Menschen vom „Kommando AFA-Werke“. Der polnische Überlebende Stefan Rzepczak berichtet später, dass allein Kommandant Streitwieser eigenhändig 25 Menschen erschossen habe:
„Streitwieser holte 25 Personen heraus, ein Graben war schon ausgehoben. Sie wurden zu dem Graben geführt und sollten sich hinknien. Die Armen zogen sich die Sträflingsanzüge über die Ohren, und die Schüsse nicht zu hören. Streitwieser trat an jeden heran und schoss von hinten den Kopf.“
Weitere 22 Menschen werden von der Lagerschreibstube Mauthausen als „vermisst“ oder „geflüchtet“ registriert. Andrei Bagmut, der ebenfalls nach Mauthausen marschieren musste, spricht nach seiner Erinnerung sogar von 250 toten Menschen. Ähnlich ist die Lage in den anderen Wiener Außenlagern. Im Heinkel-Werk Mödling etwa werden viele Häftlinge noch vor dem Abmarsch ermordet.
„Die Konzentrationslager rücken mitten in die Gesellschaft“
Diese Todesmärsche finden in aller Öffentlichkeit statt. Doch bereits davor waren die KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter:innen im Stadtbild sichtbar: In den Betrieben für alle zivilen Arbeiter:innen. Für die allgemeine Öffentlichkeit, wenn die Häftlinge von und zu den Fabriken marschieren. Dazu werden KZ-Häftlinge in Wien und anderen Städten auch dazu gezwungen, die lebensgefährlichen Bombenräumkommandos nach Luftangriffen zu übernehmen.
Historiker Perz beschreibt es so: „KZ-Häftlinge werden spätestens ab 1944 für die breite Bevölkerung einfach sichtbar.“ Sein Fazit: „Die Konzentrationslager rücken mitten in die Gesellschaft.“ Wir können davon ausgehen, dass ein guter Teil der Bevölkerung damit ideologisch völlig einverstanden ist. Doch gerade im städtischen Raum gibt es auch Widerstand.
Floridsdorf etwa war vor dem Faschismus eine Hochburg der Arbeiter:innenbewegung gewesen – im NS-Regime ist es eine Hochburg des illegalen Widerstands gegen die Nazis. Die Floridsdorferin Friederike Krenn arbeitet während in dieser Zeit in der Maschinenfabrik Hofherr & Schrantz. Im Betrieb schließt sie sich einer Widerstandszelle an.
Widerstand gegen den Faschismus
Diese Widerstandsgruppe versorgt Häftlinge heimlich mit Essen und auch mit Information über den Kriegsverlauf. Die bekommen die Widerstandskämpfer:innen durch das heimliche Abhören ausländischer Radiomeldungen. In einigen Fällen kann die Gruppe Zwangsarbeiter auch vor bevorstehenden Bombenangriffen warnen. Kurz vor Kriegsende werden Angehörige der Gruppe denunziert, Krenn kann sich der Verhaftung entziehen. Nach den Zweiten Weltkrieg bleibt sie als Funktionärin des KZ-Verbands politisch aktiv, Friederike Krenn stirbt 2012.
Bei AFA/VARTA gibt es ebenfalls Widerstand: Die beiden kommunistischen Arbeiter Franz Heindl und Viktor Mrnustik werden von den Nazis im Landesgericht Wien ermordet. 1950 wurde am Gelände einer Firmenniederlassung in Wien-Liesing ein Denkmal für die beiden enthüllt, nach dem Abriss des Geländes steht es heute vor dem Eingang des Liesinger Friedhofs.
Die Nazis drohen mit Verhaftungen
In Simmering versuchen österreichische Arbeiter:innen, die Zwangsarbeiter:innen zu unterstützen: Der damals im Saurer-Werk beschäftigte Fritz Konir berichtet später: „Die österreichischen Arbeiter und Meister duldeten das Schlagen nicht. Sie warfen halbe Zigaretten als ‚Tschick‘ weg, sie vergaßen ihr Jausenbrot auf irgendeiner Werkbank. Einige Tage später hing im ganzen Betrieb ein Anschlag: Wenn die Sympathiekundgebungen der deutschen Gefolgschaft mit den Häftlingen nicht aufhören, wird mit Verhaftungen vorgegangen.“
Doch vor allem auch die Zwangsarbeiter:innen selbst leisten Widerstand. So warnt die Gestapo Anfang November 1943 in ihrem Tagesbericht vor dem Aufbau einer Widerstandsbewegung in Wien und Niederösterreich. Das Ziel dieser kommunistisch beeinflussten „Anti-Hitler-Bewegung der Ostarbeiter“ sei es, durch Sabotageaktionen und die Bildung von bewaffneten Partisan:innengruppen das NS-Regime zu beseitigen.
Die Zwangsarbeiter:innen organisieren sich
Aus den Saurer-Werken etwa wissen wir, dass sich dort eine illegale Häftlingsorganisation formierte – der „Lagerälteste“, der Wiener Franz Kalteis, kann 1945 ein Massaker an rund 190 Menschen verhindern. Aus Floridsdorf ist der Fall des belgischen Zwangsarbeiters Franz Schots dokumentiert. Er soll laut einem Denunzianten Granaten beim Verladen in der Firma Hofherr & Schrantz bewusst wuchtig herumgeworfen haben – um sie so unbrauchbar zu machen. Auch Aleksandra Michailowa aus dem heutigen Russland wurde als Zwangsarbeiterin nach Wien verschleppt.
Einmal sei es den Inhaftierten trotz Elekrozäunen gelungen, drei Zwangsarbeiter:innen zur Flucht zu verhelfen, wie sie 2002 in einem Interview erzählt. Als sie danach am Appelplatz stehen musste, hätte sie sich gedacht: „Sucht sie, sucht sie, ihr werdet sie nicht finden“. Die Nazis seien enorm wütend gewesen.
Die meisten Täter:innen kommen nach 1945 ungeschoren davon
Der im Lager Floridsdorf eingesetzte SS-Mann Hans Bühner muss für seine Taten bezahlen: Er wird 1950 von einem französischen Militärgericht verurteilt und anschließend hingerichtet. SS-Kommandant Streitwieser dagegen kann nach dem Ende des Krieges untertauchen. Erst 1967 wird er im Kölner Mauthausen-Prozess wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, er stirbt 1972 im Gefängniskrankenhaus Bochum. Streitwieser und Bühner gehören damit zu den wenigen NS-Schergen, die überhaupt Konsequenzen für ihre Taten spüren mussten. Die politische Stimmung zeigt sich allerdings in der Urteilsbegründung zu Streitwieser, die im Buch „Mauthausen vor Gericht“ dokumentiert ist:
Nach dem Ende des NS-Regimes wären Streitwieser und andere Angeklagte doch „brave Familienväter“ gewesen, die „nur schuldig geworden [waren], weil (…) die Gesellschaftsordnung ihre Schuld provozierte“. Der Wiener Ingenieur Karl Fiebinger dagegen ist einer von vielen, die nach 1945 fast bruchlos weitermachen können. In der NS-Ära war er für den Bau zahlreicher Rüstungsprojekte verantwortlich gewesen.
Fiebinger soll auch den Umbau der Seegrotte Hinterbrühl zum geheimen Heinkel-Flugzeugwerk erledigt haben, wie Hubert Mitter in seinem lesenswerten Buch „Lisa und Languste“ über die Geschichte der Grotte im NS-Regime schreibt. Nach Ende des Krieges muss Fiebinger kurz in Haft. Danach wird er als Fachmann in die USA gebracht und arbeitet für die dortige Regierung.
In seinem späteren Leben trifft sich Fiebinger übrigens mit seinen ehemaligen Kameraden gerne bei einem Heurigen in Wien-Grinzing zu sogenannten „Bergkristall-Runden“. Er stirbt erst 2014 in Wien. Es ist alles noch nicht so lange her, wie manche glauben (wollen).
Chef von VOEST und Daimler Benz mit einer „motivierten Belegschaft“
Sogar gänzlich folgenlos bleibt seine Rolle im NS-Regime für den Oberösterreicher Walter Hitzinger, einen zentralen Verantwortlichen für den KZ-Lagerkomplex Wien. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt Hitzinger in der Sozialdemokratie unter und wird Generaldirektor der VOEST. Später wird er sogar Vorstandsvorsitzender der Daimler Benz AG. Für ihn schließt sich damit ein Kreis: Im NS-Regime war er Vorstandsmitglied der „Flugmotorenwerke Ost“ gewesen wo zahlreiche Zwangsarbeiter:innen als Sklav:innen gehalten wurden – es ist ein Unternehmen, an dem Daimler Benz unmittelbar beteiligt war.
Auf der Website von Mercedes Benz ist Hitzingers NS-Vergangenheit bis heute kein Thema. Ebensowenig auf der Website des oberösterreichischen Generatorenherstellers Hitzinger, den Walter Hitzinger 1946 gegründet hatte: Dort ist stattdessen von Hitzingers „sozialen Leistungen“ mit einer „motivierten Belegschaft“ die Rede.
In Österreich gab es laut Autor Christian Rabl („Mauthausen vor Gericht“) nach 1955 überhaupt nur zwei Verfahren gegen Täter des Mauthausen-Komplexes. Beide wurden freigeprochen – in mindestens einem der beiden Verfahren waren unter den Geschworenen ehemalige NSDAP-Mitglieder gewesen.
Die Republik und die beteiligten Unternehmen verhöhnen die Opfer
Während führende Nazi-Verbrecher:innen nach dem Ende des NS-Regimes stillschweigend rehabilitiert werden und weiter aufsteigen können, bekommen die Zwangsarbeiter:innen jahrzehntelang nicht einmal Entschädigungen für ihre Sklavenarbeit. Weder ÖVP-noch SPÖ-dominierte Regierungen ändern etwas daran. Das ändert sich erst in den 1990er Jahren, wo bereits sehr viele Opfer tot sind. Doch auch zu diesem Zeitpunkt ist es keine freiwillige Entscheidung.
Aktiv werden Österreich und Deutschland erst, nachdem in den 1990er Jahren in den USA Sammelklagen gegen österreichische und deutsche Unternehmen eingereicht werden und Boykottaufrufe aufkommen. So erscheint etwa 1999 in der New York Times eine Anzeige von Hinterbliebenenorganisationen mit dem Slogan „Mercedes Benz Design. Performance. Sklavenarbeit.“ Im Jahr 2000 folgt dann eine „Globalklage“ gegen die Republik und rund 80 österreichische Firmen.
2500 Euro für fast drei Jahre Sklaverei
Danach werden die noch überlebenden ehemaligen Sklavenarbeiter:innen mit lächerlich geringen Summen abgespeist. Österreichische Firmen können sich am Budget für solche Auszahlungen beteiligen – freiwillig und mit 0,2 Prozent (!) des Jahresumsatzes von 1999. Der Ukrainer Michael S. etwa war im Juli 1942 ins heutige Österreich verschleppt worden und wurde bis zum Ende des NS-Regimes zur Sklavenarbeit gezwungen. Seinen Akt habe ich im Österreichischen Staatsarchiv gefunden. Für fast drei Jahre Sklavenarbeit erhält Michael S. im Juli 2001 von der Republik Österreich eine Entschädigung von 2.543 Euro und 55 Cent.
Im Gegenzug für diese absurde niedrige Abschlagszahlung müssen S. und alle anderen betroffenen Menschen auf jegliche weitere Forderungen verzichten. Auch Michael S. bekommt 2001 einen Brief des Österreichischen Versöhnungsfonds: Eine Auszahlung könne erst vorgenommen werden, „wenn die gegen österreichische Unternehmen vor US Gerichten anhängigen Sammelklagen zurückgezogen oder abgewiesen worden sind“.
Und S. solle doch bitte, „um Zeit zu sparen“, gleich eine beigelegte Verzichtserklärung unterzeichnen. Darin muss er „unwiderruflich“ darauf verzichten, gegen Österreich und Deutschland sowie gegen österreichische und deutsche Unternehmen irgendwelche weiteren Forderungen geltend zu machen. Nur dann erfolgt die Auszahlung der 2.543,55 Euro. Im offiziellen Abschlussbericht zur Zwangsarbeit in Österreich wird all das übrigens wörtlich als „großzügig“ bezeichnet.
Was der FAC und die Admira heute zur Geschichte ihres Stadions sagen
Zur Geschichte ihres (ehemaligen) Fußballstadions halten sich sowohl die Admira wie der FAC öffentlich sehr bedeckt: Weder die Admira noch der FAC erwähnen dieses Thema auf ihren Websites in der Vereinsgeschichte mit einem einzigen Wort. Die Admira hätte mit ihrem Archiv möglicherweise viele offene Fragen beantworten können. Doch der heutige Zweitligist hat auf meine diesbezügliche Anfrage nicht einmal reagiert. Obwohl die Admira offenbar sogar noch Spiele durchführte, während nebenan bereits der mörderische KZ-Betrieb lief.
Der FAC dagegen ist subjektiv tatsächlich in einer komplizierten Lage – immerhin hat der Verein das Stadion erst 1966 übernommen. Laut FAC-Sprecher Sebastian Heimrath gäbe es deshalb auch „keine Hintergrundinformationen oder Bildmaterial zu der Zeit des Zweiten Weltkrieges, der erneuten Inbetriebnahme der Baracken oder des gesamten Konzentrationslagers“.
„Gegen Rassismus, Antisemitismus und jegliche Art von Ausgrenzung“
In seinem Leitbild hat der FAC heute klare Leitlinien verankert, die für viele andere Vereine vorbildhaft wären: „Diskriminierung, Rassismus, Sexismus oder Homophobie finden beim FAC keinen Platz. Integration und Toleranz sind im Sport unabdinglich und werden beim FAC mit vollster Überzeugung gelebt.“ Auch im Stadion gibt es entsprechende Bekenntnisse, so sind etwa die Eckball-Fahnen im Regenbogen-Design gehalten.
Und FAC-Sprecher Heimrath gibt ein eindeutiges Bekenntnis ab: „Der FAC steht für Toleranz und gegen Rassismus, Antisemitismus und jeglicher Art von Ausgrenzung.“ Der FAC würde selbstverständlich auch „die schrecklichen Vorkommnisse“ verurteilen, die sich in der Hopfengasse zur Zeit des Nationalsozialismus zugetragen haben. Das alles ist sehr wichtig und sehr gut. Dennoch könnte der FAC noch mehr tun.
Welche Möglichkeiten der FAC hätte
So hatte ich den FAC auch gefragt, ob es denkbar wäre, auf der Vereins-Website Informationen über die Geschichte des Areals zu ergänzen sowie das Gedenken an das KZ Floridsdorf zu verstärken. Dazu sagt Sprecher Heimrath, dass der FAC die Geschichte des Platzes selbstverständlich nicht „leugnen oder vergessen lassen“ möchte. Daher würde sich der Verein auch jedes Jahr an der Kranzniederlegung bei der Gedenktafel vor dem Stadiongelände beteiligen und damit ein „Zeichen für die Opfer dieser grausamen Zeit setzen“. Für die Kranzniederlegung im Juni 2022 kann ich das bestätigen, damals war ich vor Ort.
Doch gleichzeitig fühle sich der FAC „mit der Hopfengasse und deren Geschehnissen in der Zeit vor der Übernahme im Jahr 1966 in keinster Weise verbunden“. Technisch ist das natürlich richtig. Allerdings hat dieses Areal eben die Geschichte, die es hat. Damit werden sich auch die Nachgeborenen auseinandersetzen müssen. Das KZ war in der Bevölkerung auch kein Geheimnis gewesen. Wir können davon ausgehen, dass die FAC-Funktionär:innen bei der Stadionübernahme im Jahr 1966 – also nur 21 Jahre nach Kriegsende – durchaus wussten, wofür das Areal im NS-Regime verwendet worden war.
Die jüdischen Präsidenten des FAC
Und gerade für den FAC würden sich viele Gedenkmöglichkeiten bieten, die die Geschichte des Vereins miteinbeziehen. So hatte der FAC laut einer Recherche aus dem Jahr 2020 allein in der Ersten Republik fünf jüdische Präsidenten. Einer davon: Victor Berger, der 1940 im Konzentrationslager Dachau starb. Ein weiterer jüdischer Ex-Präsident, Siegfried Samuel Deutsch, war nicht nur Präsident des FAC gewesen.
Deutsch war insgesamt eine große Nummer im österreichischen Fußball: Der Sozialdemokrat war etwa Präsident des Wiener Fußballverbands sowie der sozialdemokratischen Vereinigung der Amateur-Fußball-Vereine Österreichs (VAFÖ). Deutsch musste vor den Nazis flüchten und starb 1968 in Großbritannien im Exil. Über das Leben von zwei weiteren jüdischen Präsidenten, Leopold Deutsch und Fritz Grünwald, konnte ich nichts herausfinden. Auf der Website des FAC ist all das heute noch kein Thema – das könnte sich ändern.
Ein verlorener Weg
Eine etwas fragwürdige Ehrung bekam dagegen der fünfte ehemalige jüdische FAC-Präsident, Leo Klagsbrunn – er und seine Familie mussten vor den Nazis nach Brasilien flüchten. 2021 wurde ein Weg in der Nähe des FAC-Stadions nach der Familie Klagsbrunn benannt. Die Stadt Wien erklärte damals, dass damit die Familie „geachtet“ würde. Doch tatsächlich ist dieser Weg so irrelevant, dass er nicht einmal auf Google Maps eingezeichnet ist.
Kein Wunder: Bei meiner Suche nach dem Weg sehe ich vor Ort, dass der Klagsbrunnweg nicht mehr ist als ein Trampelpfad zwischen der Kleingartenanlage und einem Park. Auch erklärende Tafeln zur Benennung des Weges sind nirgends zu finden. Wesentlich würdiger wäre es, etwa den Denglerpark umzubenennen, der nach der gleichnamigen Brauereifamilie benannt ist und an diesen Pfad angrenzt. Dazu müssten nicht einmal die Adressen der Anrainer:innen verändert werden.
Und auch die Admira hatte in ihrer Floridsdorfer Zeit mindestens einen jüdischen Präsidenten: Den 1929 verstorbenen Sozialdemokraten und Arzt Rudolf Brichta. Wie eine solche Geschichte in einen Fußballverein integriert werden kann und dort auch Bewusstsein schafft, zeigt exemplarisch der FC Bayern München: Antifaschistische Fans haben dort das Gedenken an den ehemaligen jüdischen Präsidenten Kurt Landauer ins Zentrum gerückt – inzwischen ist Landauer Ehrenpräsident des Vereins.
Das große Schweigen
Innerhalb der Stadt Wien ist Stadtrat ist Peter Hacker von der SPÖ zuständig für die Sportanlagen. Stadtrats-Sprecher Reinhard Krennhuber sagt, dass die Stadt aktuell Gespräche mit dem FAC bezüglich der Sanierung des FAC-Stadions führen würde. Dabei sei es der Stadt Wien laut Krennhuber „natürlich ein Anliegen, dass das Gedenken an das ehemalige Konzentrationslager sichtbarer gemacht wird“.
Ich hatte auch gefragt, ob die Stadt Wien Überlegungen hätte, wie das Gedenken an dieses KZ insgesamt verstärkt werden könne, etwa über die Zusammenarbeit mit lokalen Schulen und Jugendeinrichtungen. Darauf geht die Stadt in ihrer Anfragebeantwortung nicht ein. Die Bezirksvertretung Floridsdorf hat auf eine Anfrage gleich gar nicht geantwortet.
Dabei wären viele Unterlagen schon vorhanden: So sind einige sehr gut gemachte und informative Materialien zum Zwangsarbeitssystem in Wien unter diesem Link auf erinnern.at abrufbar. Diese Unterlagen sind auch für die Arbeit in Schulen oder Jugendeinrichtungen sehr nützlich. Direkt neben dem Stadion sind inzwischen auch noch der Tennisclub „Tennisrevo“ sowie ein Grillrestaurant angesiedelt.
Das alte Eingangsportal mit der Gedenktafel für das KZ steht genau vor einem Tennisplatz. Wo heute Tennis gespielt wird, standen einst die KZ-Baracken. Doch auf der Page des Tennisclubs findet sich kein Hinweis auf die Geschichte des Platzes. Auf meine Anfrage hat „Tennisrevo“ nicht reagiert.
Die großen Pläne bieten Chancen – und Gefahren
Für die kommenden Jahre hat der FAC große Pläne: Das Stadion in der Hopfengasse soll ausgebaut und modernisiert werden. Eine Gefahr ist natürlich, dass bei einem Umbau auch noch die letzten Mauerreste des ehemaligen KZ verloren gehen.
Und die Erinnerung an dieses KZ ist in Wien ohnehin kaum mehr vorhanden: Erst seit dem Jahr 2000 gibt es eine Gedenkstätte an der Prager Straße. Die kleine Gedenktafel an der Außenmauer wurde überhaupt erst im Jahr 2018 eingeweiht, also über 70 Jahre nach Kriegsende. Das kann nur ein Anfang sein. Hier würde der geplante Stadion-Umbau auch viele Chancen bieten.
So hat etwa die Gedenkstätte Mauthausen eine Stele entwickelt, wo alle Außenlager des KZ-Mauthausen sichtbar werden. Jeder Eintrag zeigt dabei auch die Richtung und Entfernung aller anderen Lager. Eine solche Stele könnte auch beim Stadion aufgebaut werden.
Das ehemalige KZ endlich sichtbar machen
Der FAC und die Stadt Wien könnten sich heute positiv auf das jüdische Erbe des Vereins beziehen. So könnte etwa das FAC-Stadion nach einem der früheren jüdischen Präsidenten benannt werden. Auch eine eigene Adresse für den Stadionvorplatz und damit für den Verein wäre eine passende Gedenkmöglichkeit. Auch die Plätze vor den Stadien der Wiener Großklubs Austria und Rapid haben eigene Adressen, das sollte also umsetzbar sein. Denkbar wäre ein Victor-Berger-Platz – und damit die Erinnerung an den ehemaligen FAC-Präsidenten, der im KZ Dachau gestorben ist.
Der Bezirk und die Stadt Wien würden hier wohl kaum im Wege stehen: Immerhin stammt auch Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) aus Floridsdorf und ist deklarierter FAC-Fan. In den Vereinsmedien könnte und sollte die Geschichte des Platzes zum Thema gemacht werden. Dazu auch jene der ehemaligen jüdischen Vereinspräsidenten.
Dazu könnten neue Gedenkelemente platziert werden. Sie sollten für die Fans im Stadion und die Bewohner:innen der Umgebung deutlich besser sichtbar sein als die aktuelle Gedenktafel. Und schließlich könnte die Geschichte des ehemaligen KZ Floridsdorf auch in die Schul- und Jugendarbeit im Bezirk integriert werden. Apropos Jugendarbeit: Auch die Kinder und Jugendlichen, die beim FAC spielen, sind wichtige Verstärker:innen – wenn sie mehr über die Geschichte ihres Vereins erfahren, sollte die Geschichte des Platzes auf keinen Fall fehlen.
Es gäbe also viele Möglichkeiten … und es gibt offensichtlich noch viel zu tun. Und das gilt nicht nur für Floridsdorf, sondern für die zahlreichen KZ-Außenlager in Österreich: Von Amstetten über Eisenerz und Linz bis Vöcklabruck und Wels. Doch noch ist da in Wien-Floridsdorf nur die unscheinbare Gedenktafel in der Novembernacht. Daneben welken die Blumen. Das Flutlicht geht aus, jetzt ist es dunkel.
Es muss nicht so bleiben.
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