Angeblich soll in Favoriten die Kriminalität besonders hoch sein. Tatsächlich sind ganz andere Bezirke die Hotspots der Wiener Kriminalität. Die Polizei wollte mir zuerst nicht einmal die Zahlen nennen. Und das Ergebnis wird Dich überraschen.
- Von Michael Bonvalot. Mitarbeit: Hannes Iker
Es ist ein herrlich sonniger Tag am Reumannplatz – genau im Herzen des großen Wiener Arbeiter:innenbezirks Favoriten. Einige Menschen schlendern zum Einkaufen auf die Favoritenstraße, andere steigen von der U1 in den Bus um oder umgekehrt. Manche sitzen einfach nur auf einer Bank, plaudern miteinander, genießen die Sonne. Und sehr viele haben ein Eis in der Hand.
Kein Wunder, denn der Reumannplatz ist auch die Heimat des „Tichy“ – des bekanntesten Eissalons der Stadt. Kenner:innen wissen: Unbedingt das Haselnuss-Eis probieren! Dazu wurde der Reumannplatz kürzlich klimagerecht saniert, jetzt gibt es endlich mehr Grün und mehr Bäume. Eine Familie sitzt entspannt im Gras, die Kinder spielen, die Eltern plaudern und schauen dabei auf das berühmte Amalienbad aus der Zeit des Roten Wien. Schön ist es hier. Es ist ein Bild von Favoriten, das die meisten Menschen in Österreich vermutlich sehr überraschen wird.
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Gefühlte Kriminalität
Vor allem werden wohl jene Menschen überrascht sein, die kaum oder noch nie in ihrem Leben in Favoriten waren. Denn wer den Berichten der großen Medienhäuser folgt, müsste eigentlich glauben, dass im zehnten Wiener Gemeindebezirk regelmäßig Mord- und Totschlag herrschen. Fast jeden Tag folgen neue Berichte über die Kriminalität in Favoriten. Es ist ein Test, den ich gern bei Vorträgen mache: Ich frage die Zuhörer:innen, in welchem Wiener Bezirk es wohl die höchste Kriminalität je Einwohner:in gäbe.
Fast immer glaubt die Mehrheit, es sei Favoriten. Doch tatsächlich zeigen die Zahlen: Das stimmt schlichtweg nicht. Die Bevölkerung wird im Fall Favoriten bereits seit Jahren durch eine „gefühlte Kriminalität“ eingeschüchtert, die nicht durch Fakten gedeckt ist. Denn tatsächlich ist in Wirklichkeit die Kriminalität in ganz anderen Bezirken weit höher. Welche das sind, dazu kommen wir gleich.
Die ÖVP und die Messer-Propaganda
An dieser Recherche arbeite ich bereits seit längerer Zeit. Immerhin trat schon im März sogar Innenminister Gerhard Karner von der ÖVP wahlkampfwirksam in Favoriten auf, um sich auf der Seite der angeblich so geplagten Bevölkerung zu stellen. Kurz danach folgte das Verbot des Tragens von Messern im Zentrum des Bezirks. Mit einer Verordnung, die übrigens mehr Löcher hat als ein Schweizer Käse. Und letztlich wohl vor allem zu zahlreichen rechtswidrigen Durchsuchungen führen wird.
Am 15. Mai tauchte Karner dann gleich nochmals in Favoriten auf – diesmal gar in Begleitung von ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer. Und wieder ging es, rechtzeitig vor der EU-Wahl, um das Thema Kriminalität.
Viele Medien berichten aktuell kritiklos von den Kontrollen der Polizei. Die entsprechende Verordnung der Polizei hat sich dagegen scheinbar kaum jemand genauer angesehen. Doch Journalismus darf nicht zum Verlautbarungsorgan der Polizei verkommen. 4/
— Michael Bonvalot (@MichaelBonvalot) April 2, 2024
Für den Nationalratswahlkampf will die ÖVP das Thema „Messer“ offenbar auch bundesweit spielen: Ein eigenes „Messertrage-Verbotsgesetz“ soll kommen. Fast wie bestellt hatte die Wiener Polizei davor auffallend häufig über Messer-Delikte berichtet. Meine Recherche, wie die Polizei ihre Messer-Propaganda gemacht hat, könnt ihr hier finden.
Vor allem ÖVP und FPÖ heizen gemeinsam mit dem Boulevard bereits seit Jahren laufend das Thema Kriminalität auf. Und Favoriten dient ihnen als angebliches Beispiel. Ein Bezirk mit einem schlechten Ruf, dazu noch mit einem hohen Anteil von Menschen mit Migrationsbiographie – das kommt wie gerufen für die Propaganda! Doch was ist wirklich dran an diesem schlechten Ruf des zehnten Wiener Gemeindebezirks? Das wollte ich wissen. Am 16. März habe ich also bei der Pressestelle der Wiener Polizei erstmals um Übermittlung der Wiener Kriminalitätsstatistik ab dem Jahr 2018 ersucht.
Warum will die Polizei die Zahlen nicht rausrücken?
Wörtlich schreibe ich: „Ich hätte eine Frage zur Kriminalitätsstatistik in Wien. Könnten Sie mir diese ab 2018 übermitteln, jeweils aufgeschlüsselt nach Bezirken? (Ab 2018, damit es keine Verzerrungen durch die Pandemie gibt.) Gibt es auch eine Aufschlüsselung nach Deliktgruppen?“
Ich erkläre auch, worum es mir geht: „Mein Fokus liegt dabei darauf, wie viele Delikte je Einwohner:in jeweils in den Bezirken gesetzt wurden. Medial und politisch ja vor allem Favoriten in den Mittelpunkt gerückt, es könnte scheinen, dass es dort besonders viele Delikte gäbe. (…) In welchen Bezirken gibt es proportional die meisten Delikte?“
Da fehlt doch etwas
Als Antwort übermittelt mir die Polizei eine Kriminalitätsstatistik – allerdings ausschließlich zu Favoriten. Die anderen Bezirke schickt sie mir nicht. Dazu sind es auch keine Gesamzahlen, stattdessen bekomme ich eine Statistik „in den Hauptdeliktsgruppen 2021 und 2022“, wie es heißt. Die Polizei hat also einfach bestimmte Delikte ausgewählt. Laut Wiener Polizei seien diese „Hauptdeliktsgruppen“ Gewalt, Suchtmittel und Eigentum. Doch das ist offensichtlich ein willkürlich gewählter Ausschnitt. So ist etwa völlig unklar, warum hier zentrale Bereiche wie Wirtschafts-, Internet- und Verkehrsdelikte völlig fehlen. Oder auch Verhetzung und das NS-Verbotsgesetz.
Gerade das Fehlen der Internetkriminalität ist auffällig. Immerhin hat sogar das Bundeskriminalamt erst im April festgestellt hat: „Die Internetkriminalität steigt laut Polizeilicher Kriminalstatistik nach wie vor deutlich an.“ Es wäre „ein Phänomen, das sich von Jahr zu Jahr wiederholt.“ Laut Innenministerium gab es im vergangenen Jahr in Österreich sogar ein Drittel mehr Internetdelikte als Körperverletzungsdelikte. Dennoch sind diese Internetdelikte für die Wiener Polizei offenbar keine „Hauptdeliktsgruppe“. Zumindest, wenn es um Favoriten geht.
Aus dem Justizministerium heißt es übrigens, der Begriff „Hauptdeliktsgruppen“ sei dort nicht einmal bekannt. Dazu gibt es ein weiteres und sehr offensichtliches Problem mit der Antwort der Polizei auf meine Anfrage: Wenn die Polizei nur Zahlen für Favoriten schickt, sind keinerlei Vergleiche mit anderen Bezirken möglich. Und nun wird meine Recherche etwas kafkaesk.
Polizei sieht keinen „Nutzen“ in Medienanfrage
Denn zuerst hake ich bei der Pressestelle der Wiener Polizei nach: „Und dürfte ich nochmals um die Zahlen für alle Wiener Bezirke bitten? Nur so ist klarerweise ein Vergleich möglich. Falls eine Auswertung proportional zur Einwohner:innenzahl vorhanden ist, bitte auch diese. Ebenfalls bitte um Übermittlung der Gesamtzahlen, nicht nur der Hauptdeliktsgruppen.“
Die überraschende Antwort von Polizei-Pressesprecher Markus Dittrich: „Die von Ihnen gewünschten Zahlen liegen uns nicht auf.“ Und weiter: „Aus polizeilicher Sicht steht der administrative Aufwand in keiner Relation zum Nutzen.“ Schon das lässt staunen. Denn eigentlich sollte nicht die Polizei entscheiden können, ob sie einen „Nutzen“ in Medienanfragen sieht. Wenn dieses Vorgehen Schule macht, wäre es ein heftiger Angriff auf jede Form von kritischer Berichterstattung. Vor allem aber ist das logische Problem der Behauptung der Polizei offensichtlich.
Zahlen? Haben wir nicht. Ah, haben wir doch.
Wenn die Polizei angeblich keine Zahlen für die Wiener Bezirke hat: Wie kann sie dann Zahlen für Favoriten schicken? Und dass die Wiener Polizei angeblich keine Gesamtzahlen zur Kriminalität je Bezirk hat (dafür aber Zahlen aus willkürlichen „Hauptdeliktsgruppen“) – auch das ist einfach nicht plausibel. Nachdem die Polizei-Pressestelle auf eine weitere Nachfrage erneut behauptet, dass die Zahlen „nicht aufgeschlüsselt“ vorliegen würden, schreibe ich eine weitere Anfrage, diesmal direkt an das Innenministerium. Und nun geschieht etwas fast Magisches.
Kurz danach übersendet mir Polizeisprecher Dittrich die Kriminalitätszahlen für ganz Wien – ab 2019 und perfekt aufgeschlüsselt nach Bezirken. Also genau jene Zahlen, die es angeblich nicht geben würde.
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Und diese Zahlen sind sehr aufschlussreich. Denn sie zeigen, in welchen Bezirke in Wien es proportional zur Bevölkerung tatsächlich besonders kriminell zugeht.
Was ist eigentlich Favoriten?
Sehen wir uns zuerst die Lage in Favoriten an. Im zehnten Bezirk leben 2024 rund 220.000 Menschen. Damit wäre der Bezirk im Süden Wiens übrigens schon alleine die drittgrößte Stadt Österreichs: Nur Wien und Graz sind größer. Über Jahrzehnte war Favoriten damit auch der einwohner:innenstärkste Bezirk Wiens, erst 2024 wurde er nach vorläufigen Zahlen erstmals von der Donaustadt überholt.
Der Bezirk ist dabei extrem vielfältig: In Innerfavoriten viel Altbaubestand – das „Kreta“-Viertel etwa galt schon immer als proletarisches Widerstandsnest gegen die Obrigkeit und den Faschismus. Dazu prägen hier auch mächtige Gemeindebauten aus der Zeit des Roten Wiens das Bild.
Weiter draußen, ab dem Verteilerkreis mit dem Stadion der Wiener Austria, ändert sich das Bild. Dort steht etwa die Per-Albin-Hansson-Siedlung, eine städtische Wohnanlage aus den 1950er Jahren mit rund 14.000 Einwohner:innen. Fast genau gegenüber: Die FH Campus Wien, mit über 8.000 Studierenden die größe Fachhochschule in Österreich. Noch weiter stadtauswärts wird der Bezirk dann buchstäblich dörflich, etwa in Oberlaa, wo es sogar Heurigenlokale gibt.
Wieder ganz anders ist das Bild rund um die Hochhäuser am Wienerberg oder im völlig neu gebauten Sonnwendviertel am Areal des ehemaligen Wiener Südbahnhofs. Das sind ganz verschiedene Bezirksteile mit entsprechend unterschiedlicher Bevölkerungsstruktur. „Den“ zehnten Bezirk gibt es also nur in Vorstellungen und Verzerrungen.
Wo es mehr Menschen gibt, gibt es auch mehr Kriminalität
Die Größe von Favoriten hat erst mal eine ganz logische Konsequenz: Wo mehr Menschen leben, gibt es auch mehr Kriminalität. So wird es beispielsweise in Linz mit seinen rund 200.000 Einwohner:innen klarerweise statistisch immer mehr Kriminalität geben als in einer Gemeinde mit 5.000 Einwohner:innen im oberösterreichischen Mühlviertel. Deshalb sind Bewohner:innen von Linz aber logischerweise nicht krimineller als Mühlviertler:innen. Sondern es gibt rein mathematisch mehr Kriminalität, wo es mehr Personen gibt. Viel wichtiger zur Einschätzung der Lage ist also die Kriminalitätsrate pro Person.
Favoriten: Fakten gegen Vorurteile
Sehen wir uns das konkret am Beispiel Favoriten an. 2023 lebten in Favoriten insgesamt 218.415 Menschen. Das sind ziemlich genau 11 Prozent der Wiener Bevölkerung. In ganz Wien gab es im selben Jahr laut Landespolizeidirektion Wien insgesamt 186.475 Delikte. Das klingt erst mal viel, aber da müssen wir natürlich aufpassen. Das umfasst jedes Delikt bis hin zu Verkehrsdelikten.
Konkret für Favoriten wurden im Jahr 2023 insgesamt 24.364 Delikte ausgewiesen. In absoluten Zahlen ist Favoriten damit tatsächlich an der Spitze der Wiener Statistik. Aber das ist eben eine Null-Aussage – weil Favoriten ja auch bei den Einwohner:innen ganz vorne liegt. Und dazu auch flächenmäßig einer der größten Bezirke der Stadt ist.
Wenn wir nun die Kriminalität in Relation zur Einwohner:innenzahl setzen, zeigt sich auf einmal ein ganz anderes Bild. Rund 11 Prozent der Wiener Stadtbevölkerung wohnen in Favoriten, rund 13 Prozent aller Delikte werden dort verzeichnet. Umgerechnet auf die Bevölkerung liegt die Kriminalitätsrate im zehnten Bezirk damit beim 1,19-fachen des Wiener Durchschnitt. Das bedeutet: Die Kriminalitätsrate liegt um 19 Prozent höher als im Schnitt. Nicht irrelevant, aber auch nicht wahnsinnig viel. Ganz anders dagegen sieht es in Bezirken aus, die vermutlich auf dem ersten Blick niemandem beim Thema Kriminalität einfallen würden.
Die echten kriminellen Hotspots: Die Innenstadt und noble Bezirke innerhalb des Gürtels
Denn der tatsächliche Kriminalitätshotspot der Bundeshauptstadt ist eindeutig der erste Bezirk. Dort leben gerade einmal 16.620 Einwohner:innen. Aber im Jahr 2023 wurden dort insgesamt 10.130 Delikte verzeichnet. Damit sind in der Innenstadt 5,4 Prozent aller Wiener Delikte begangen worden. Obwohl dort gerade einmal 0,8 Prozent der Bevölkerung leben. Das ergibt eine „Überkriminalität“ von +548 Prozent.
Zur Erinnerung: In Favoriten sind es gerade einmal 19 Prozent über dem wienweiten Schnitt. Und auch weitere Bezirke innerhalb des Gürtels sind wesentlich krimineller als Favoriten. Denn nach der Inneren Stadt folgen Mariahilf, Neubau und Alsergrund. Es sind vermutlich eher nicht die Bezirke, die die meisten Menschen beim Thema „Kriminalität in Wien“ ganz vorne auf der Rechnung haben. Erst dann folgt Favoriten auf Platz fünf.
Mehr Kriminalität – trotz gerade mal halb so viel Bewohner:innen
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Und die Zahlen sind auch hier eindeutig: „Überkriminalität“ in Mariahilf: +75 Prozent über dem wienweiten Durchschnitt. In Neubau: +70 Prozent. In Alsergrund: +40 Prozent. Alle diese Bezirke sind damit weit vor Favoriten. Gemeinsam hätten die Innere Stadt, Mariahilf, Neubau und Alsergrund übrigens sogar in absoluten Zahlen mehr Delikte als Favoriten. Obwohl dort insgesamt nur rund halb so viele Menschen leben wie im „zehnten Hieb“.
Um zu überprüfen, ob es sich hier um zufällige Ausreißer handelt, haben mein Kollege Hannes Iker und ich das alles auch für das Jahr 2022 durchgerechnet. Die Ergebnisse sind weitgehend ident. Es zeigt gleichzeitig die Absurdität der gesamten Debatte: Denn auch die vermeintlichen „Kriminalitätshotspots“ der Bundeshauptstadt sind tatsächlich beliebte, nette und schöne Bezirke mit sehr hoher Lebensqualität. Es sind auch durchgehend Bezirke mit enorm teuren Mieten, weil dort sehr viele Menschen leben wollen. Weil Wien eben faktisch überall sicher und lebenswert ist.
Wie lassen sich diese Ergebnisse erklären?
Doch bleiben wir noch kurz im ersten Bezirk! Rein statistisch kommen im vergangenen Jahr auf drei Bewohner:innen der Wiener Innenstadt zwei angezeigte Kriminalfälle. Leben im ersten Bezirk also großteils Täter:innen? Das ist natürlich Unsinn. Tatsächlich ist der erste Bezirk in einer besonderen Lage: Viele Tourist:innen, viel Wirtschaft und viele Besucher:innen aus anderen Bezirken. Das erklärt natürlich viele Ausreißer bei der Statistik. Doch es liegen ja auch Mariahilf, Neubau und Alsergrund bei der Kriminalität weit vor Favoriten.
Und da spielen Tourismus und Wirtschaft bereits eine weit geringere Rolle. Und den Besuch aus anderen Bezirken gibt es naturgemäß genauso in Favoriten. Doch was alle diese Bezirke gemeinsam haben: Sie sind verhältnismäßig belebt. Viele Menschen sind der Straße, es gibt an jeder Ecke Lokale, Jugendliche treffen sich im öffentlichen Raum.
Wo viele junge Menschen sind, passiert auch mehr
Ich habe selbst über Jahre als Sozialarbeiter Jugendliche betreut. Und wer sich auch nur ein bisschen in Wien auskennt, weiß: Der Schwedenplatz in der Innenstadt ist in der Nacht nicht unbedingt ein ruhiges Pflaster. Da kommen alle Nachtbus-Linien zusammen, gleich daneben ist die Ausgeh-Meile „Bermudadreieck“. Übersetzt: Viele betrunkene Jugendliche, es kracht regelmäßig.
Das bedeutet: Körperverletzungen und Raub, oft sind auch Suchtmittel im Spiel. Wo dagegen weniger Menschen unterwegs sind, dort passiert auch weniger. Und genau das zeigt auch die Kriminalitätsstatistik. Denn es gibt auch Bezirke, die deutlich „unterkriminell“ sind.
Im Alter wird es ruhiger
Den niedrigsten Wert in Wien etwa hat Hietzing, gefolgt von Währing. Beides sind Bezirke, wo auf den Straßen kaum etwas los ist. Auch Floridsdorf und Donaustadt, die „transdanubischen“ Bezirke jenseits der Donau, sind umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung bei der Kriminalität deutlich unter dem Wiener Schnitt. Es sind reine Schlafstädte.
Dazu dürfte auch das Alter eine wichtige Rolle spielen. Der überwiegende Teil aller Delikte wird von Männern bis 35 begangen. Und was hier deutlich auffällt: Hietzing mit seinem besonders niedrigen Kriminalitätswert hat auch eine wesentlich ältere Bevölkerung als Wien insgesamt. Der 13. Bezirk hat sogar die zweitälteste Bevölkerung der Hauptstadt (am „ältesten“ ist die Innere Stadt). Favoriten dagegen ist – nach Simmering – der zweitjüngste Bezirk. Der Migrationsanteil, der vor allem in Favoriten so oft bemüht wird, scheint dagegen keine Rolle zu spielen.
Nein, es sind nicht „die Ausländer“
Der Bezirk mit dem höchsten Migrationsanteil in Wien ist Rudolfsheim-Fünfhaus. Es folgen in den „Top 5“ die Brigittenau, Favoriten, Margareten und Meidling. Die Kriminalitätshotspots der Bundeshauptstadt sind da also nicht vertreten. Tatsächlich liegen Rudolfsheim-Fünfhaus, Meidling und Margareten im Jahr 2023 nur ganz leicht über dem Wiener Kriminalitätsdurchschnitt. Im Jahr davor wäre Meidling sogar noch unter dem wienweiten Durchschnitt gewesen.
Besonders eindeutig wird es in der Brigittenau. Die liegt beim Migrationsanteil immerhin auf Platz zwei in Wien. Doch bei der Kriminalität ist sie sowohl 2022 wie 2023 unter dem Wiener Durchschnitt. Ebenso übrigens wie Simmering – der große Arbeiter:innenbezirk im Südosten gehört sogar zu den sichersten Bezirken in ganz Wien. Was dagegen auch hier offensichtlich wird: Sowohl Meidling wie Simmering und die Brigittenau gelten nicht unbedingt als Partyhotspots der Bundeshauptstadt. Die Belebtheit dürfte also eine gewisse Rolle für die Kriminalitätsstatistik spielen.
Das tatsächliche Problem heißt Armut
Favoriten ist im wienweiten Vergleich ein armer Bezirk. Und Armut bedeutet auch, dass soziale Probleme sichtbar werden. In Favoriten etwa rund um den Keplerplatz und den Reumannplatz. Kein Wunder. Denn Armut bedeutet auch, dass sich ein eigenes Zimmer für jedes Kind kaum mehr ausgeht. Die logische Folge: Viele (junge) Menschen sind auf der Straße.
Auch Alkohol- und Suchterkrankungen werden sichtbarer, wenn beeinträchtige Menschen sich in der Öffentlichkeit aufhalten. Die Alkoholerkrankung des Managers aus dem noblen Hietzing ist höchstens in der Familie ein Thema – Wohnungslose dagegen müssen im öffentlichen Raum konsumieren. Und schließlich gibt es in Wien seit Jahrzehnten Plätze, wo illegalisierte Substanzen gekauft werden können. Aktuell gibt es deshalb eine sogenannte Szene am Keplerplatz.
Doch das ist ein Katz- und Mausspiel: Die Polizei zerschlägt einen Treffpunkt, kurz darauf folgt der nächste. Früher war es der Karlsplatz in der Innenstadt, dann folgten verschiedene Stationen der U6 und der Straßenbahnen 6 und 18, aktuell ist es der Keplerplatz. In zwei Jahren wird es ein anderer Ort in einem anderen Bezirk sein. Gleichzeitig ist das alles reichlich sinnlos: Solange es Konsument:innen gibt, wird es auch Verkaufsplätze für verunreinigte und gestreckte Substanzen geben. Eine gesundheitspolitisch weit sinnvollere Lösung wäre die kontrollierte und sichere Abgabe von Substanzen an suchtkranke Menschen über Apotheken.
Politik, Medien und Polizei machen Angst
Es ist auffällig, dass die Politik zwar regelmäßig nach immer mehr Polizei in Favoriten ruft. Aber nie nach mehr Sozialarbeit, nach der Entkriminalisierung von Suchterkrankungen und nach mehr Aufenthaltsräumen ohne Konsumzwang. Dazu tragen viele Medien zu einem völlig verengten Bild von Kriminalität bei, das noch dazu komplett überdramatisiert. Auch und gerade in Bezug auf Favoriten.
So fallen etwa die eindeutigen Schwerpunkte der polizeilichen Medienarbeit auf: So gut wie täglich schickt die Wiener Polizei mehrere Aussendungen zu Raub oder Gewaltdelikten aus. Wirtschaftsdelikte dagegen sind fast nie ein Thema. Warum eigentlich nicht? Und warum schreiben die meisten Medien einfach nur artig die Presseaussendungen der Polizei ab, ohne deren Fokus jemals zu hinterfragen? 2015 hatte eine Studie sogar gezeigt, dass die Polizei weit überdurchschnittlich über Favoriten berichtete. Ein Vorfall in Favoriten schaffte es damals mit fast zweieinhalbmal höherer Wahrscheinlichkeit in eine Aussendung als einer im Villenbezirk Döbling.
Das alles führt auch zu einem enorm eingeschränkten Blick auf Kriminalität – sowohl, was die Orte betrifft wie in Hinblick auf die Delikte. Zur Erinnerung: Auch illegale überhöhte Mieten oder Betrug bei der Auszahlung von Löhnen sind kriminell. Doch das wird kaum je berichtet. Bei der Polizeigewalt kennen wir ebenfalls nur die Spitze des Eisbergs – die Polizei jedenfalls ist in ihren täglichen Aussendungen zu diesem Thema sehr schweigsam.
In vielen Bereichen wird mehr angezeigt als früher
Angst macht Auflage. Doch seriöser Journalismus würde bedeuten, die Fakten zu recherchieren. Und die sind eindeutig: Tatsächlich geht die Kriminalität in Wien und in ganz Österreich immer weiter zurück. Trotz deutlich steigender Bevölkerung. Und obwohl es heute in einigen Bereichen sogar eine viel größere Anzeigebereitschaft gibt als früher.
Im Zeitalter von Handys und Screenshots wird etwa schnell zur „gefährlichen Drohung“ nach dem Strafgesetzbuch, was früher auf der Straße einfach als „milieubedingte Unmutsäußerung“ galt. Während Prügeleien unter Jugendlichen früher kaum jemanden kratzten, landen diese Fälle heute oft vor Gericht. Und schließlich gibt es die sehr positive Entwicklung, dass häusliche Gewalt gegen Frauen viel öfter zur Anzeige gebracht wird.
Die Kriminalität in Österreich geht immer weiter zurück
Doch sogar das ändert nichts daran, dass die Kriminalität in Österreich insgesamt immer weiter zurückgeht. Die Auswertungen der Statistik Austria zeigen das eindeutig. So gab es etwa im Jahr 1959 in Österreich noch über 123.000 rechtskräftige Verurteilungen – es war der Höchstwert in der Zweiten Republik. Im Jahr 2022 waren es dann gerade einmal noch rund 26.400 Verurteilungen. Ein Bruchteil. Dazu kommt: Die Kriminalstatistik übertreibt die Realität in vielen Fällen sogar noch.
Das Bundeskriminalamt (BKA) hat einmal in einer Aussendung erklärt, wie die Polizei ihre Fälle zählen würde. Das BKA nennt ein Beispiel: „Werden 25 Gelddiebstähle aus einer Schulgarderobe mit 25 verschiedenen Geschädigten angezeigt, dann handelt es sich um 25 Fälle.“ Oder: „Wenn es zu einem Lokaleinbruch mit anschließender Brandstiftung zum Verwischen der Spuren kommt, handelt es sich um zwei Fälle: Einbruchsdiebstahl und Brandstiftung!“ Eindeutig zusammengehörende Falle werden also oft mehrfach gezählt – es treibt die Zahlen in die Höhe.
Das sind die Fakten. Ein wenig mehr Gelassenheit wäre dringend angeraten. Statt sich an der Erregung von Politik und Boulevard zu beteiligen: Gehen Sie lieber mal wieder zum Reumannplatz und essen Sie ein Eis.
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