Die durchgeknallte Tante wieder zum Familienfest einladen? Okay. Sich mit Nazis versöhnen? Sicher nicht.

Die österreichische Bundesregierung hat offiziell die Corona-Versöhnung ausgerufen. Einfach so tun, als wäre nichts gewesen? So einfach wird es nicht gehen. Und es wäre auch sehr gefährlich.

Zahlreiche Menschen kennen jemanden in der Familie, im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz, der oder die in der Pandemie abgedreht ist. An mich haben sich in dieser Zeit zahlreiche Menschen gewendet, oft völlig verzweifelt. Was tun mit der Tante, die in der Familiengruppe auf WhatsApp nur noch wahnsinnige Verschwörungserzählungen postet? Was tun mit dem durchgedrehten Kollegen?

Bei einem meiner Seminare erzählte mir ein Betriebsrat aus dem Metallbereich sogar, dass ein Arbeiter in seiner Firma jeden direkten Kontakt mit geimpften Menschen verweigern würde. Er verlangte, dass ihm das Werkzeug zugeworfen werden solle. Viele Menschen stellen sich völlig zu Recht die Frage: Was machen wir jetzt?

Mit wem wollen wir uns überhaupt versöhnen?

Die österreichische Bundesregierung ruft inzwischen zur „Versöhnung“ auf. Knapp vor Weihnachten wurde eine wissenschaftliche Aufarbeitung präsentiert, der Titel: „Nach Corona. Reflexionen für zukünftige Krisen.“ Die gesamte Studie kann übrigens hier nachgelesen werden. ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer erklärte dann bei der Präsentation: Die Bundesregierung schließe hiermit den Corona-Aufarbeitungsprozess ab. Doch so einfach wird das nicht funktionieren.

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Denn noch immer stellen sich zahlreiche Fragen: Wie gehen wir mit den zahlreichen Menschen um, die an Long Covid erkrankt sind? Was machen wir in der nächsten Pandemie, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kommen wird? (Warum das so ist, habe ich hier aufgeschrieben.) Und vor allem: Mit wem wollen wir uns überhaupt versöhnen? Und wo sind die Grenzen?

Die Angst vor dem Unbekannten

Viele Menschen hatten an den Höhepunkten der Pandemie völlig zu Recht vor allem enorme Angst. Verschwörungserzählungen boten in dieser Situation für manche Menschen einen scheinbaren Rettungsanker: Wenn es die Pandemie gar nicht gibt oder wenn sie nicht so schlimm ist, da muss ich mich auch nicht fürchten. Und ich muss auch nichts an meinem eigenen Leben verändern. Das ist praktisch und es gibt Halt. Viele Menschen verstehen inzwischen auch selbst, dass sie da oft ziemlichen Stuss zusammen geredet hatten.

Beruflich hatte ich etwa mit einem Mann zu tun, der standhaft behauptete, dass alle geimpften Menschen innerhalb eines Jahres sterben würden. Inzwischen konnte er sich selbst ganz praktisch davon überzeugen, dass das Unsinn ist. Es ist aber auch sehr spannend, worum es eigentlich ging: Er hatte schlichtweg seit seiner Kindheit enorme Angst vor Ärzt:innen und Spitälern. Die Verschwörungserzählung war für ihn eine bequeme Ausrede, tatsächlich hatte er einfach Angst vor der Spritze.

Können und sollten wir uns mit Menschen wie ihm „versöhnen“? Selbstverständlich! Tatsächlich hoffe ich sogar, dass niemand Menschen wie ihm jemals böse war. Doch es gibt auch die anderen.

Nazis an der Spitze

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Vermummte Neonazis mit Gottfried Küssel an der Spitze. Ganz vorne im Zug die neofaschistische Gruppe Identitäre mit einem riesigen Banner. Einschlägig bekannte Burschenschafter. Fahnen der antisemitischen QAnon-Bewegung. Und Nazi-Hooligans, die Antifaschist:innen attackieren. Das ist der Aufmarsch der Corona-Szene am 31. Jänner 2021 in Wien. Rund 10.000 Personen nehmen an diesem Aufmarsch teil. Rückblickend betrachtet ist es vermutlich einer der wichtigsten Aufmärsche der gesamten Corona-Proteste.

Denn an diesem Tag können die Rechten und ihre Gefolgschaft die Ringstraße besetzen und einen Aufmarsch erzwingen. Nach dem Aufmarsch jubelt Identitären-Gesicht Martin Sellner auf Telegram: Demo-Verbote hätten „ihren Schrecken verloren“. Die FPÖ würde „die Bewegung aus dem Parlament“ unterstützen. Die Proteste seien „patriotischer und politischer“ als in Deutschland. Waren deshalb alle, die an diesem Tag marschierten oder an anderen Corona-Aufmärschen teilnahmen, automatisch extreme Rechte?

Nazis? Egal.

Ganz sicher nicht. Doch alle, die an solchen Aufmärschen teilnahmen, wussten sehr genau, mit wem sie da marschierten. Wer dort war, hat die Fahnen und Transparente ohnehin gesehen. Und im Nachgang wurde es in Medien und sozialen Netzwerken ausführlich berichtet.  Bei einem der großen Corona-Aufmärsche in der Wiener Innenstadt sprach ich mit einer Demonstrantin, einer jüngeren Frau. Während unseres kurzen Gesprächs marschierten direkt neben uns einige amtsbekannte Nazis vorbei, angeführt von Gottfried Küssel. Ich fragte sie, ob sie das nicht schwierig finden würde. Ihre Antwort: Das wäre ihr egal. „Jetzt geht es um Corona.“

Im Dezember 2019 kamen die ersten Meldungen aus China: Eine unbekannte neue Viruserkrankung würde erste Opfer fordern. Als Covid-19 Österreich erreicht, wirkt zu Beginn überraschenderweise sogar die FPÖ vernünftig und unterstützt einen ersten Lockdown. FPÖ-Chef Herbert Kickl kritisiert im März 2020 die Regierung sogar dafür, dass „viele sinnvolle“ Maßnahmen „viel zu spät gestartet worden“ seien.

Die FPÖ übernimmt die Proteste

Doch keine Sorge, es wäre nicht die FPÖ, wenn sie nicht gleichzeitig ihr einschlägiges Kleingeld waschen würde: Denn parallel fordert Kickl „alle Grenzen“ für den Personenverkehr zu schließen. Und statt eines „Green Deals“ wolle die FPÖ auf europäischer Ebene einen „Anti-Corona-Deal“. Also gleich noch eine Breitseite gegen Maßnahmen zum Klimaschutz.

Doch schon wenige Wochen später dreht die FPÖ ihre Linie um 180 Grad: Bereits Anfang Mai 2020 geht sie mit einer Kampagne namens „Jetzt reicht’s! – Allianz gegen den Corona-Wahnsinn!“ an die Öffentlichkeit. Was heute oft vergessen wird: Schon die allerersten Corona-Aufmärsche wurden von extremen Rechten organisiert.

In Wien mobilisiert die FPÖ am 20. Mai 2020 zu einem spärlich besuchten Aufmarsch am Wiener Heldenplatz. Mittendrin übrigens unter anderem Identitären-Gesicht Sellner. In Graz wird der allererste Corona-Aufmarsch von einem Verein organisiert, der den verdrehten Lehren des 2017 verstorbenen Ex-Arztes Ryke Geerd Hamer nahesteht, einen berüchtigten Antisemiten. Dieser Erfinder der „Germanischen Neuen Medizin“ behauptete, dass Krebs ohne Bestrahlung heilbar wäre und Chemotherapie eine jüdische Verschwörung. Es wird davon ausgegangen, dass inzwischen bereits hunderte Menschen gestorben sind, weil sie Hamer glaubten. Unter ihnen auch Kinder, deren Eltern Fans des Antisemiten waren.

Wüste Verschwörungserzählungen

In Kärnten mobilisiert gleich zu Beginn der Pandemie die FPÖ-Abspaltung BZÖ mit wüsten Verschwörungserzählungen: Das Corona-Virus sei „offensichtlich die Inszenierung eines großen Theaters“. Ein Aufmarsch am 17. Mai 2020 in Klagenfurt wird vom damaligen BZÖ-Politiker Martin Rutter angeführt – er wird in den folgenden Jahren das zentrale Gesicht der Corona-Proteste in Österreich werden.

Wie es begonnen hat, so geht es auch weiter: Die größten Corona-Aufmärsche in Wien werden von der FPÖ unterstützt oder sogar organisiert. Immer wieder führt die neofaschistische Gruppe Identitären die Aufmärsche an. In der burgenländischen Landeshauptstadt Eisenstadt werden die Corona-Proteste sogar gleich ganz offen von der Gruppe „Corona Querfront“ organisiert – einer Frontorganisation der Küssel-Neonazis. Auch in anderen Landeshauptstädten sind extreme Rechte regelmäßig ganz vorne mit dabei.

Offener Antisemitismus und russische Propaganda in der Familiengruppe

Auf diesen Aufmärschen und in den einschlägigen Telegram-Gruppen mit teils zehntausenden Abonnent:innen werden dann immer absurdere Verschwörungserzählungen verbreitet. Über soziale Medien bekommen vermutlich hunderttausende Menschen in Österreich diesen Schwachsinn auf Ihr Handy gespült. Besonders schwierig für viele Menschen: Familientreffen und Familiengruppen, etwa auf WhatsApp, wo der Ausstieg nicht so einfach möglich ist.

Corona wurde – je nach Belieben – mit Verschwörungserzählungen über 5G, geflüchtete Menschen oder Chemtrails verknüpft. Und immer mit dabei: Die angeblich geheime Weltverschwörung, die aus dem Hintergrund alles beherrschen würde. Eine Ideologie, die den Antisemitismus in sich trägt wie die Wolke den Regen.

Apropos Antisemitismus: Wer sich selbst wegen der freiwilligen Verweigerung einer potentiell lebensrettenden Impfung mit den Opfern des Holocaust vergleicht, ist entweder antisemitisch oder dumm wie Brot. Oder beides. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine kam dann das nächste Thema dazu: Nun wurden auch noch stolz die russischen Fahnen präsentiert.

Die Grenzen der Versöhnung

Wer von uns beim Familienfest oder in der Mittagspause wie viel Schwachsinn ertragen kann, das bleibt klarerweise eine persönliche Entscheidung. Doch solange es subjektiv möglich ist, sollten wir Menschen unterstützen, die in einer absoluten Ausnahmesituation abgedriftet sind. Doch es gibt auch Grenzen.

„Versöhnung“, da schwingt mit, dass wir uns irgendwie in der Mitte treffen sollten. Dass wir uns die Hände schütteln und so tun, als wäre nichts gewesen. Schwamm drüber quasi. Und das kann sicherlich nicht die Lehre aus dieser Pandemie sein.

Wir können und sollen Menschen am Weg zurück unterstützen, die abgedriftet sind und unsere Unterstützung wollen. Doch mit Neonazismus, Rassismus oder Antisemitismus kann es keine Versöhnung geben.

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