Fast täglich erscheinen in den Medien neue Berichte über Messer-Verbrechen in Wien. Doch meine Auswertung von Polizeimeldungen zeigt: Die Polizei schickt Messerdelikte weit überdurchschnittlich aus. Sie macht Angst-Propaganda.
Wer aktuell die Begriffe „Messer“ und „Wien“ in eine Suchmaschine eingibt, muss Angst bekommen. Fast jeden Tag ein neuer Bericht über ein mutmaßliches Verbrechen mit einem Messer in Wien. So findet sich etwa am 16. April die OE24-Schlagzeile: „Vier Unbekannte attackierten 19-Jährige mit Messer“.
Die Konkurrenz von Heute bringt am 13. April den Schocker: „Zwei Minderjährige (12, 14) rauben Buben mit Messer aus“. Und der Kurier fasst am 11. April mit der Schlagzeile zusammen: „Wien: Polizei musste wegen zahlreicher Messer-Attacken ausrücken“. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt der Berichte. Die meist jugendlichen Täter, die in den Artikeln genannt werden, haben so gut wie immer eine Migrationsbiografie. In den Kommentaren in sozialen Medien werden danach regelmäßig rassistische Gewaltfantasien gepostet.
Wer nicht selbst in Wien lebt, könnte glauben, dass in der Hauptstadt bald niemand mehr seines Lebens sicher ist. Und auch viele Wiener:innen sind verunsichert. Tatsächlich ist Wien laut verschiedenen Rankings eine der lebenswertesten Großstädte der Welt.
Die Angst wird zum Wahlkampfthema
Und tatsächlich haben die meisten dieser Medienberichte eines gemeinsam: Es sind im Wesentlichen abgeschriebene Presseaussendungen der Polizei – bestenfalls ergänzt um ein paar Informationen, die bei der Polizei telefonisch eingeholt wurden. Und die Angst-Berichterstattung wird schnell zum politischen Faktor.
Zuerst wird seitens der Wiener Polizei Ende März eine Waffenverbotszone für Teile des Bezirks Favoriten verhängt. Am 17. April wird dann sogar ein Entwurf für ein eigenes „Messertrage-Verbotsgesetz“ an die Medien gespielt. ÖVP-Innenminister Gerhard Karner hatte einen solchen Entwurf im März angekündigt. Dazu fordert die ÖVP auch noch die Senkung der Strafmündigkeit für 12-jährige Kinder. Die rechte Partei hat ihr Wahlkampfthema.
Tatsächlich gibt die Verordnung anlasslose Kontrollen einfach nicht her. Kontrollen sind nur erlaubt, wenn "auf Grund konkreter Anhaltspunkte der dringende Verdacht besteht", dass jemand eine Waffe mit sich führt. Ohne Grundlage kontrollieren? Das ist nicht zulässig. 5/
— Michael Bonvalot (@MichaelBonvalot) April 2, 2024
Tatsächlich hat der Messer-Gesetzesentwurf mehr Löcher als ein Schweizer Käse. So soll es etwa verboten sein, ein Messer in der Hosentasche zu führen. Doch es bleibt erlaubt, das Messer in der Tasche zu tragen. Taschenmesser sind ebenso ausgenommen wie Messer, die angeblich zum ländlichen Brauchtum gehören. Zu befürchten steht, dass die Polizei das neue Gesetz vor allem für anlasslose und rechtswidrige Kontrollen nützen wird. Welche Rechte Du im Umgang mit der Polizei hast, habe ich hier aufgeschrieben.
Wie die Polizei die Berichterstattung der Medien steuert
Die meisten Medien geben einfach die Presseaussendungen der Polizei wieder. Wie läuft das in der Praxis ab? In Wien verschickt die Pressestelle der Landespolizeidirektion jeden Tag mehrere Mails mit Pressemeldungen an einige Journalist:innen und Medien. Dazu werden die Aussendungen auch auf der Seite der Wiener Polizei veröffentlicht.
Allerdings sind die Aussendungen dort gerade einmal für rund eine Woche abrufbar, dann wird alles wieder gelöscht. Das Problem: So ist es nicht möglich, über längere Zeiträume zu vergleichen oder etwas nachträglich zu prüfen
Üblicherweise verschickt die Wiener Polizei pro Tag zwischen vier und acht Pressemeldungen. Doch logischerweise gibt es in einer Großstadt wie Wien täglich weit mehr als vier bis acht Delikte. Und damit entscheidet ausschließlich die Polizei, über welche Delikte wir überhaupt etwas erfahren. Und über welche nicht.
Favoriten als Zentrum der Propaganda
Als im März 2024 mehrere Körperverletzungen mit Messern in Favoriten gemeldet werden, springen nicht nur viele Medien auf. Auch ÖVP-Innenminister Gerhard Karner kommt am 18. März 2024 eigens zu einem „Lokalaugenschein“ – real ist es wohl eher ein Wahlkampftermin.
Dort stellt der Innenminister medienwirksam eine neue „Einsatzgruppe Jugendkriminalität“ vor. Für die Fotograf:innen inszeniert sich der ÖVP-Politiker dann am Reumannplatz im Herzen des Bezirks als starker Mann, umgeben von Uniformierten.
Auch die Wiener Polizei macht eigens eine Presseaussendung, wo zeitgleich eine „Schwerpunktaktion der Wiener Polizei in Wien-Favoriten“ angekündigt wird. Und nun beginnt etwas sehr Interessantes.
Fakten gegen „gefühlte Wahrheiten“
Denn in den folgenden Tagen wird auf einmal die Forderung nach einer Waffenverbotszone in Inner-Favoriten zum Medienthema. Ich werde hellhörig. Denn tatsächlich wissen wir nicht einmal, ob es in Favoriten besonders viele Delikte mit Messern gibt. Und ob da in letzter Zeit eine Häufung nachweisbar ist. Dazu sind keine Statistiken bekannt. Wir kennen nur die Aussendungen der Polizei.
Ich beginne also damit, ab dem Tag des Besuchs von Karner in Favoriten für einen Monat alle Presseaussendungen der Wiener Polizei auszuwerten. Ich sortiere die Aussendungen nach Delikten, nach Bezirken, nach der Staatsbürger:innenschaft der mutmaßlichen Täter:innen – und danach, ob Waffen erwähnt werden. Diese Auswertung enthält viele Auffälligkeiten, übrigens auch zu den Vorurteilen und der Berichterstattung über Favoriten. Ich werde sie in den nächsten Tagen veröffentlichen.
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Doch bleiben wir an dieser Stelle bei den Waffen. Hier zeigt sich ein eindeutiges Bild: Die Polizei forciert offensichtlich ganz bewusst die Messer-Berichterstattung in den Medien. Denn bei meiner Untersuchung zeigen sich enorme Auffälligkeiten.
Die Polizei berichtet weit überdurchschnittlich über Messer-Delikte
Ich habe alle 160 Pressemeldungen der Wiener Polizei zwischen 18. März 2024 und 18. April 2024 ausgewertet. In einigen Aussendungen geht es um Öffentlichkeitsaktionen der Polizei, Verkehrsunfälle oder den Widerruf von Fahndungen. Die interessieren uns an dieser Stelle natürlich nicht. Danach bleiben 138 Pressemeldungen, wo die Polizei im weitesten Sinne über verschiedene Delikte informiert. Von der Geschwindigkeitsübertretung über Betrug bis zur Körperverletzung.
Zu erwarten wären nun eigentlich Meldungen, die die gesamte Bandbreite des Kriminalitätsgeschehens darstellen. Doch real zeigt sich ein ganz anderes Bild. Tatsächlich veröffentlicht die Pressestelle der Landespolizeidirektion Wien in diesem Zeitraum insgesamt 31 Aussendungen, wo explizit ein Messer vorkommt. Dazu gibt es eine Aussendung, wo von Stichverletzungen die Rede ist sowie eine, wo es um eine Machete geht. Die lassen wir weg, obwohl es wohl um den gleichen Themenkomplex geht.
Bei insgesamt 138 Aussendungen bedeutet das: Die 31 Aussendungen zum Thema Messer stehen für 22,46 % aller Aussendungen der Polizei in diesem Zeitraum. In mehr als einem Fünftel aller Aussendungen geht es also um das Thema Messer. Das ist klarerweise für das Kriminalitätsgeschehen in der Bundeshauptstadt in keinster Weise repräsentativ.
Genaue Zahlen sind nicht verfügbar, doch um es kurz logisch durchzudenken: Es geht hier um alle Anzeigen in der gesamten Stadt Wien. Also um die gesamte Bandbreite des Rechtssystems – vom Verkehrsdelikt über Drohungen im Netz bis zum Baumschutzgesetz. Delikte mit Messern sind da real vermutlich eher im Promillebereich. Und dennoch trommelt die Wiener Polizei das Thema äußerst auffällig.
Wirtschaftskriminalität ist kaum ein Thema
Einen guten Eindruck vermittelt auch die polizeiliche Anzeigenstatistik für Wien, die die Polizei am 25. März ausgeschickt hatte – also im Zeitraum meiner Untersuchung. Im gesamten Jahr 2023 hätte es in Wien insgesamt 186.475 Anzeigen gegeben. Einer der größten Brocken ist dabei der Bereich Wirtschaftskriminalität. Das geht es etwa um Betrug, den größten Anteil hatten laut Polizei die Bereiche Internetbetrug und Cybercrime.
Insgesamt 38.372 Anzeigen meldet die Polizei für den Bereich Wirtschaftskriminalität. Das sind 20 Prozent aller Anzeigen. Doch zum Thema Betrug im Internet gibt es im Untersuchungszeitraum gerade einmal vier Aussendungen, davon eine zu Betrug im Netz. Dazu kommt eine Aussendung zum Thema „Welpenhandel“. Zu den Wirtschaftsverbrechen der sogenannten besseren Kreise wird überhaupt nichts gemeldet.
Was sagt die Polizei dazu?
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Ich habe auch die Wiener Polizei gefragt, was sie zu diesen Auffälligkeiten sagt. Warum exakt diese Amtshandlungen ausgeschickt wurden. Und wie überhaupt entschieden wird, welche Delikte an die Medien gemeldet werden.
In ihrer Stellungnahme erklärt die Landespolizeidirektion Wien, dass in Wien täglich zahlreiche Amtshandlungen durchgeführt würden. Eine aktive Mitteilung sämtlicher Amtshandlungen sei daher „faktisch nicht möglich“. Das hatte aber ohnehin niemand gefordert.
Wer bestimmt, was „objektiv“ wichtig ist?
Weiter heißt es in der Stellungnahme, die Polizei würde die Öffentlichkeit über jene Amtshandlungen informieren, „die objektiv gesehen die größte Relevanz“ hätten. Das Problem: Logischerweise kann es in solchen Fragen keine „Objektivität“ geben.
So wäre es sicherlich für viele Beschäftigte „objektiv“ sehr relevant, wenn sie über betrügerische Firmen-Konkurse informiert würden. Menschen, die gerne ausgehen, würden vermutlich „objektiv“ gerne mehr über Brandschutz-Vergehen in bestimmten Lokalen wissen. Und für Mieter:innen wären Meldungen über kriminelle Hausbesitzer:innen zweifellos auch „objektiv“ äußerst interessant. Was die Polizei also tatsächlich macht: Sie trifft eine absolut subjektive Auswahl. Die sie dann als „objektiv“ verkaufen will.
Die ÖVP und die Verbindungen zur Wiener Polizei
Wer im Polizeiapparat aufsteigt, das wird von oben nach unten bestimmt. Und die Befehlskette endet im ÖVP-geführten Innenministerium. Da ist es natürlich auffällig, dass Innenminister Karner in Favoriten das Thema Messer aufgreift. Und im Monat danach enorm viele Pressemeldungen der Polizei zu genau diesem Thema erscheinen.
In Wien gibt es dazu auch noch eine auffällige Personalie: Der Wiener ÖVP-Chef Karl Mahrer war vor seiner Politikkarriere bis 2017 der Landespolizeikommandant von Wien. Dann holte ihn die ÖVP unter Sebastian Kurz. Das Ziel: Mahrer solle für die ÖVP die klassischen rechten Themenfelder „Sicherheit“ und „Migration“ bespielen. Mahrer wird gleichzeitig wohl weiterhin beste Kontakte in den Polizeiapparat haben.
Journalismus-Verbände warnen
Auch viele Journalist:innen-Verbände sehen die Problematik und warnen vor der kritiklosen Übernahme von Polizeimeldungen. Das betont auch Reporter ohne Grenzen Österreich auf meine Anfrage. Sprecherin Christin Edlinger sagt: „Wir betonen die Notwendigkeit, Polizeiberichte wie jede andere Quelle kritisch zu hinterfragen.“ Verzerrungen der Realität könnten „nur mit unabhängiger Recherche und journalistischer Sorgfalt“ vermieden werden.
Der Wiener Polizeipräsident Pürstl beklagt offenbar in einem Brief an den ORF-Generaldirektor, dass ich jüngst im ORF-Report aufgetreten bin. Ich sei ein "als überaus polizeikritisch bekannter Journalist". Ein Angriff, den ich als Kompliment betrachte.
— Michael Bonvalot (@MichaelBonvalot) May 8, 2022
Der Deutsche Journalistenverband (DJV) rief bereits 2019 dazu auf, „Meldungen und Informationen der Polizeibehörden in allen Fällen kritisch zu hinterfragen“. Das sollten Journalist:innen „immer im Hinterkopf haben“. Es wäre wünschenswert, wenn das endlich auch für Österreichs große Medienhäuser gelten würde.
Die Polizei kann gar nicht objektiv sein
Polizei-Behörden und das Innenministerium haben grundsätzlich und immer eigenständige Interessen. Sie wollen sich selbst und ihre Arbeit im besten Licht darstellen – nicht zuletzt, wenn es um Berichte über Polizeigewalt geht. Die Behörden wollen die Ausweitung von Fahndungsbefugnissen. Und die Behörden wollen manchmal auch neue Gesetze. Sie sind damit klarerweise nicht objektiv, sie sind politische Akteure.
Bei der Berichterstattung rund um das Thema Messer zeigt sich das aktuell eindeutig. Die Wiener Polizei veröffentlicht mit ihren Aussendungen kein repräsentatives Bild des Kriminalitätsgeschehens in Wien. Stattdessen macht sie den Menschen Angst. Und das ist ein Problem.
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