Ein Freiraum mitten in Kopenhagen, die Utopie einer neuen Gesellschaft, Probleme mit Gangs, Drogen, Kommerz. Ein Besuch im Freistaat Christiania.

„Die drei Punkte auf der Flagge, die stehen für Frieden, Liebe und Harmonie“, erklärt die Verkäuferin im Souvenirshop. So ganz sicher scheint sie sich aber nicht zu sein. Und prompt widerspricht eine ältere Frau, die in einer Ecke sitzt und uns zuhört. Sie wirkt, als hätte sie schon manches hier gesehen. „Aber nein, die Punkte sind das Symbol für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!“

Auslöser der Diskussion ist eine rote Fahne mit drei gelben Punkten. Es ist die Fahne von Christiania – einem weltberühmten Freiraum im Herzen der dänischen Hauptstadt Kopenhagen. Für viele ein Sehnsuchtsort, für andere ein Symbol für die Legalisierung von Cannabis und schließlich auch immer wieder Streitfall, was aus der Umsetzung einstiger Ideale geworden ist.

Bild: Michael Bonvalot

Ab Anfang der 1970er wurde das riesige ehemalige Militärgelände gleich östlich der Innenstadt von Kopenhagen nach und nach besetzt. Schließlich riefen die BesetzerInnen den Freistaat Christiania aus. Die Utopie eines selbstbestimmten Lebens sollte hier verwirklicht werden.

Kitsch und Kommerz

Wie sich diese Utopie entwickelt hat, ist umstritten. Die zahlreichen Souvenirshops am Gelände könnten bereits als erster Einstieg in die Debatte dienen. Überall werden die drei gelben Punkte auf rotem Untergrund angeboten. Und es gibt dabei kaum etwas, was es nicht gibt: Handyhüllen und Hundeleinen, Kondome und Kaffeetassen, Slips und Superheldenpuppen. Im Lokal daneben ist die mitgebrachte Wasserflasche am Tisch unerwünscht, nichts soll den Konsum stören. Es ist eindeutig: Hier hat der Kommerz Einzug gehalten.

Bild: Michael Bonvalot

Der erste – und für viele bekannteste – Eindruck von Christiania ist die sogenannte Pusher-Street, zu Deutsch: die Drogenhändler-Straße. Sie beginnt gleich neben dem zentralen Eingang, zahlreiche Stände sind hier aufgebaut, wo Cannabis in unterschiedlichster Form und Qualität angeboten wird. Unmittelbar daneben ein Platz, wo hunderte Menschen ihre Joints drehen und rauchen. Die Atmosphäre wirkt dabei wesentlich ruhiger und entspannter als auf jedem alkoholgeschwängerten Zeltfest.

Gegen Kriminalisierung

Es ist bis heute ein zentrales Moment im Selbstverständnis von Christiania, dass Cannabis nicht illegalisiert werden soll. Doch der dänische Staat zog nicht nach und blieb bei seiner repressiven Drogenpolitik. Damit brachte die Positionierung von Christiania in der konkreten Umsetzung eine Reihe von enormen Problemen mit sich.

Der Verkauf von Cannabis-Produkten in Christiania wird zwar staatlich mehr oder weniger geduldet, doch die Produkte müssen (illegal) in den Freistaat transportiert werden – dazu braucht es Strukturen, die so etwas bewerkstelligen können. Wenn an genau einem Ort einer Großstadt der Verkauf von Cannabis geduldet wird, wird dieser Ort auch hochprofitabel. Verschiedene Banden versuchen, die Kontrolle zu erlangen. Und schließlich versuchen diese Banden dann auch, andere Geschäftsfelder zu erschließen, etwa die Ausweitung auf andere illegale Drogen.

Bild: Michael Bonvalot

Genau das passierte in Christiania. Die Verkäufer an den Ständen passen auch nicht unbedingt ins klassische Hippie-Klischee. Sie wirken eher nach Jungs aus der Vorstadt, die schon so manches gesehen haben und mit denen besser kein Streit gesucht werden sollte. In der Vergangenheit gab es am Gelände des Freistaats auch immer wieder Revierkämpfe zwischen verschiedenen Banden, die teils sogar tödlich endeten.

An diese Problematik erinnern auch die Regeln von Christiania. Unter anderem unerwünscht sind Schusswaffen, schusssichere Westen und die Abzeichen von Motorrad-Gangs – nicht unbedingt Utensilien, an die bei einem besetzten Zentrum als erstes gedacht würde. Als Reaktion auf eine Schießerei im August 2016 rissen die BewohnerInnen sogar die Stände der Drogenverkäufer ab. Inzwischen sind sie allerdings wieder aufgebaut worden, das Geschäft scheint zu brummen.

Bild: Michael Bonvalot

Der nächste Eindruck des Freistaats: Das Gelände ist riesig, weit größer als vermutet. Der Großteil ist unbebaute Natur, dazwischen zahlreiche kleine Pfade. Sogar ein kleiner Meeresarm verläuft durch den ehemaligen Militärstützpunkt, er bettet sich wie ein See in die Landschaft.

Riesiger Freiraum

Insgesamt sind es rund 34 Hektar, die den rund 800 BewohnerInnen und den zahlreichen BesucherInnen zur Verfügung stehen. Zum Vergleich: der Wiener Bezirk Josefstadt ist gerade einmal drei Mal so groß.

Bild: Michael Bonvalot

Heute ist diese Gegend beste Innenstadtlage, gleich neben dem Zentrum von Kopenhagen. Ringsum ziehen die Preise seit Jahren an, es ist ein klassisches Phänomen alternativer Wohnorte. Zuerst kommen alternative Jugendliche und Studierende, dann folgen FreiberuflerInnen, schließlich der hippe Geldadel.

Gentrifizierung

Es wird cool, dort zu wohnen, doch für die ursprünglichen EinwohnerInnen wird das Wohnen bald viel zu teuer. Der Wiener Spittelberg oder der Prenzlauer Berg in Berlin können ein Lied von dieser Entwicklung singen.

Auch Christiania passt mittlerweile zum Bild von Kopenhagen, die Stadt soll als liberal und weltoffen positoniert werden. Dass die gegenwärtige dänische Regierung unter dem konservativen Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen von der rechtsextremen Dänischen Volkspartei gestützt wird, passt zwar nicht in dieses Bild – aber Tourismus ist eben oft mehr Schein als Sein.

Teilweise wird mit dem Freistaat sogar Werbung gemacht. „Christiania passt hervorragend zu unserem Image“, meint etwa Peter Rømer Hansen, Direktor des Marketingbüros Wonderful Copenhagen, gegenüber der Zeit.

Kein Wunder also, dass auch immer wieder Immobilien-SpekulantInnen ein Auge auf Christiania warfen und das Gebiet verwerten wollten. Und so wurden die BewohnerInnen von Christiania unter dem Druck des dänischen Staates ab 2012 selbst zu HausbesitzerInnen. Insgesamt 52 Millionen Kronen (umgerechnet knapp 7 Millionen Euro) mussten sie überweisen und erwarben damit rund ein Fünftel des gesamten Geländes.

Die Gegend rund um Christiania wird ausgewertet. Bild: Michael Bonvalot

Gleichzeitig haben sich viele der ersten BewohnerInnen von Christiania gut eingerichtet. In der wilden Parklandschaft tauchen immer wieder villenartige Häuser mit kleinen Gärten auf, teils mit enorm fantasiereicher Architektur. Die ersten BesetzerInnen und ihre Kinder haben heute oftmals wunderbare Wohnorte zur Verfügung.

Große Entscheidungen werden im Plenum diskutiert und geklärt. Neue BesetzerInnen sind dabei nicht unbedingt erwünscht – nach dem Verkauf wurde allerdings bekannt gegeben, dass Platz für rund 200 neue Bewohnerinnen geschaffen werden könnte.

Das Problem des Privilegs

Praktisch ist das absolut nachvollziehbar, würden doch weitere Häuser zur Versiegelung der Landschaft und zur Zerstörung ihres Charakters beitragen. Und es ist leicht vorstellbar, dass ohne die Besetzung die weitläufige Parklandschaft heute bereits in Parzellen geteilt und zu Wohnburgen oder nur privat zugänglichen Villenanlagen umfunktioniert worden wäre.

Bild: Michael Bonvalot

Gleichzeitig zeigt der Freistaat aber auch das Problem einer Utopie des Morgens im Heute: Einige können heute hier leben, weil sie oder ihre Eltern zu den ursprünglichen BesetzerInnen gehörten. Andere müssen sich am regulären Mietmarkt versorgen.

Selbstverständlich, das ist ein Problem jedes kapitalistischen Mietmarkts. Doch hier stellt sich die Frage nochmals neu, weil es sich um Menschen handelt, die selbst den Wunsch einer anderen Gesellschaft in sich tragen.

Das Problem wird dadurch verschärft, dass der Mietmarkt in Kopenhagen enorm teuer ist. Immer mehr EinwohnerInnen weichen sogar ins benachbarte schwedische Malmö aus, das durch die überdimensionale Öresundbrücke mit Kopenhagen verbunden ist.

„Eine Wohnung in Kopenhagen könnte ich mir auf keinen Fall leisten. Deshalb bin ich nach Malmö übersiedelt“, erzählt etwa der Mann am Schalter der Autovermietung. Währenddessen erklärt er uns die Mautregelung der Brücke, die er täglich am Weg zur Arbeit überquert.

Bild: Michael Bonvalot

Das Problem des teuren Wohnraums in Kopenhagen wird dadurch aber bestenfalls verschoben und verzögert. Denn die Region wächst zu einem Großraum zusammen, die Entwicklung wird also auch Malmö erfassen.

Leerstellen

Soziale Themen sind in Christiania wenig präsent. Die kleine Kommunistische Partei hat für ein Straßenfest Plakate aufgehängt, sonst ist wenig Politisches zu sehen. Weder die beiden „linken“ Parlamentsparteien Einheitsliste und Sozialistische Volkspartei noch die außerparlamentarische Linke sind wahrnehmbar.

Bild: Michael Bonvalot

Im traditionellen linken Stadtteil Nørrebro westlich der Innenstadt wirkt das noch etwas anders. Auch das Straßenfest der KP soll In diesem Viertel stattfinden und nicht in Christiania. Doch auch in Nørrebro hat die Gentrifizierung Einzug gehalten.

Die Geschäfte sind schick, die Preise sind teuer. Dass das berühmte linksradikale Stadtteilzentrum Ungdomshuset („Jugendhaus“) im Jahr 2007 trotz zahlreicher Proteste abgerissen wurde, passt ins Bild. Das Ersatzzentrum wurde nun an den nordwestlichen Rand von Kopenhagen verlagert. Dort ist es weit schlechter erreichbar und die sozialen Bindungen ins Viertel wurden zerrissen.

Erinnerungen an vergangene soziale Kämpfe in einem Pub in Nørrebro. Bild: Michael Bonvalot

Doch zurück nach Christiania. Hier braucht es mehr als nur den ersten Blick. Denn auffällig sind vor allem die Dinge, die nicht zu sehen sind: Angebote für wohnungslose Menschen, soziale Angebote, Treffpunkte für politische Strukturen.

All das mag es in einem bestimmten Ausmaß geben, doch es steht offensichtlich nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Schade, denn allein die schiere Größe des Areals würde unglaublich viele Möglichkeiten eröffnen.

Bild: Michael Bonvalot

Trotz aller Probleme ist Christiania zweifellos für viele ein Sehnsuchtsort – und das ist absolut nachvollziehbar. Wenig staatliche Repression, Freiräume, selbstbestimmtes Leben. Gleichzeitig ist Christiania aber auch ein Symbol für die Limitierung dieses Wunsches unter von außen diktierten Rahmenbedingungen. Letztlich ist es die alte Frage, die viele Linke seit Jahrzehnten bewegt: Gibt es ein richtiges Leben im Falschen?

Vielfalt der Erklärungen

Und die Punkte auf der roten Fahne von Christiania? Die Bedeutung lässt sich heute nicht mehr endgültig klären. Manche sagen, die Verkäuferin mit ihrem Motto „Frieden, Liebe und Harmonie“ hätte recht. Andere neigen mehr der älteren Aktivistin und ihrer Deutung „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ zu.

Wieder andere sagen, die drei Punkte stehen einfach für die drei I-Punkte in Christiania. Und dann gibt es noch die Erklärung, dass bei der ursprünglichen Besetzung einfach sehr viel gelbe und rote Farbe gefunden worden wäre und jemand sich künstlerisch betätigt hätte.

Bild: Michael Bonvalot

Und letztlich ist es vielleicht genau diese Vielfalt der Erklärungen, die den Freiraum Christiania trotz aller Probleme sympathisch macht. Denn bis heute bleibt Christiania für viele ein Symbol, dass eine andere Welt möglich ist.

 

 

 

 

 

 

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