Mit der Massentierhaltung und der Abholzung der Regenwälder ist die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit.
Ein 59-jähriger Mann ist in Mexiko-Stadt mit Vogelgrippe gestorben, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 5. Juni in einem Statement bekannt gegeben. Laut dieser Stellungnahme der WHO wäre es der erste weltweit gemeldete und im Labor bestätigte Fall einer menschlichen Infektion mit der Virusvariante H5N2. Dazu wäre es auch die erste in Mexiko gemeldete Infektion mit dem Vogelgrippe Virus H5.
Der jetzt gestorbene Mann hatte laut WHO mehrere Vorerkrankungen und soll laut Angehörigen bereits drei Wochen vor seiner Einlieferung ins Spital aus anderen Gründen bettlägerig gewesen sein. Auffallend aber sei, dass der Mann in der Vergangenheit „keinen Kontakt mit Geflügel oder anderen Tieren hatte“, so die WHO.
Am Tag der Einlieferung ins Spital verstorben
Am 17. April seien beim Patienten dann Fieber, Kurzatmigkeit, Durchfall, Übelkeit und allgemeines Unwohlsein aufgetreten. Am 24. April hätte er schließlich ärztliche Hilfe aufgesucht und wäre in das Nationale Institut für Atemwegserkrankungen INER eingeliefert worden. Dort sei er noch am selben Tag verstorben.
Die Infektionsquelle sei laut dem mexikanischen Gesundheitsministerium noch nicht identifiziert, berichtet Reuters. Wie sich der jetzt gestorbene Mann infiziert habe, sei „ein großes Fragezeichen, das zumindest in diesem ersten Bericht nicht wirklich gründlich beantwortet wird“, sagt Andrew Pekosz, ein Grippeexperte der Johns Hopkins University, zum Nachrichtenportal. Einen Bezug zum Ausbruch der Vogelgrippe H5N1 in den USA, wo sich drei Arbeiter in einer Milchfarm infiziert hatten, soll es nicht geben.
In einer Pressekonferenz am 9. Juni sagt das mexikanische Gesundheitsministerium dann, der Mann sei an chronischen Erkrankungen gestorben und nicht an Vogelgrippe. Das berichtet ebenfalls Reuters. „Die Erkrankungen waren langwierig und verursachten Zustände, die zum Versagen mehrerer Organe führten“, teilt das Ministerium mit und verweist auf die Erkenntnisse eines Expert:innenteams. In einer Pressekonferenz in Genf beschreibt WHO-Sprecher Christian Lindmeier den Fall des Mannes als „multifaktoriellen Tod“. Laut Lindmeier würden Expert:innen noch untersuchten, ob er sich bei jemandem oder durch Kontakt mit Tieren angesteckt habe.
Die nächste Pandemie kommt immer näher
„Auf Grundlage der verfügbaren Informationen“ schätzt die WHO das derzeitige Risiko durch dieses Virus für die Allgemeinbevölkerung als „gering“ ein, wie es heißt. Klar ist aber: Die nächste Pandemie ist nur eine Frage der Zeit. Der US-amerikanische Evolutionsbiologe und Epidemiologe Rob Wallace warnt bereits seit Jahren vor der Gefahr von zunehmenden Pandemien im Zeitalter von Massentierhaltung und Klimakrise.
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Im Jahr 2009 etwa notierte Wallace: „Das Establishment scheint bereit zu sein, einen Großteil der weltweiten Produktivität aufs Spiel zu setzen, die katastrophal einbrechen wird, wenn zum Beispiel in Südchina eine tödliche Pandemie ausbricht – von Millionen Menschenleben einmal abgesehen.“ Genau das ist dann mit der Corona-Pandemie passiert.
Begonnen hat Wallace seine Studien mit der Vogelgrippe. Als er 1997 die Vogelgrippe-Epidemie untersucht, fand er einfach keine Erklärung, warum die Vogelgrippe (H5N1) „an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt“ entsteht, wie er später schreibt. Verschiedene Artikel von ihm sind unter dem Titel „Was COVID-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat“ im Verlag Papyrossa erschienen. Wallace sucht danach verstärkt gesellschaftspolitische Erklärungen für den Ausbruch von Pandemien. Und er wird rasch fündig.
Gesellschaftliche Gründe für Pandemien
Die gesellschaftlichen Umwälzungen in China, wo der Ausbruch der Vogelgrippe begann, drängen sich ihm als Erklärung auf. Dort seien „seit der Jahrtausendwende Reisanbau, Entenhaltung und industrielle Produktion von Geflügel und Schweinen in einer katastrophalen Weise“ zusammengekommen, so der marxistische Wissenschaftler.
Wallace kritisiert dabei die chinesische Regierung durchgehend scharf, etwa für ihre Politik der Vertuschung von Krankheitsausbrüchen. Doch der Wissenschaftler warnt gleichzeitig vor rassistischer und antichinesischer Propaganda. Er sieht das Problem nicht in der chinesischen Kultur, sondern in der auch dort damals zunehmend kapitalistischen Form der Fleisch- und Landwirtschaft.
Auch Europa und die USA seien Ausgangspunkt für neue Influenza-Stämme gewesen. Und, so Wallace: „Ihre transnationalen Konzerne und neokolonialen Stellvertreter haben die Ausbreitung von Ebola in Westafrika und von Zika in Brasilien zugelassen.“
„Die Natur wird ausgeschlachtet“
Bei den meisten neuen Infektionen handelt es sich um sogenannte Zoonosen. Das sind Infektionskrankheiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden können. Auch als Ort des ersten Ausbruchs von COVID-19 gilt ein Wildtiermarkt in Südchina. In seinem Vorwort zum Buch von Wallace erklärt der deutsche Wissenschaftsjournalist Matthias Martin Becker dazu: „Wildfleischmarkt bedeutet aber nicht, dass ein Jäger das eine oder andere Gürteltier aus dem Wald mitbringt.“
„Lebendmärkte gehören in China zum Alltag, ebenso wie die industrielle Lebensmittelproduktion“, schreibt wiederum Wallace. Wildfleischhändler seien „zu professionellen und kapitalkräftigen Unternehmen geworden“. Dazu werden immer neue Arten in die Wertschöpfungsketten der Agrarindustrie eingespannt. Darunter seien etwa Strauße, Stachelschweine, Krokodile oder Flughunde. Manche Gattungen landen, so Wallace, auf dem Tisch, bevor sie überhaupt wissenschaftlich klassifiziert wurden. Er berichtet etwa von einer neuen Haiart, die auf einem taiwanesischen Markt entdeckt wurde. Sein Befund: „Die Natur wird ausgeschlachtet.“
Eine Tierart, die solche Zoonosen überträgt, sind Flughunde beziehungsweise Fledermäuse. Eigentlich recht scheue Tiere. Doch ihnen fehlen zunehmend die Rückzugsräume. Um die Dimensionen zu begreifen: Laut einer in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichten Studie haben 60 Prozent der neu auftretenden Infektionskrankheiten einen zoonotischen Ursprung. Die Mehrheit dieser Zoonosen, nämlich über 70 Prozent, kommen von Wildtieren. „Wir fördern nach Kräften neue Zoonosen, indem wir die Lebensräume von Wildtieren zerstören“, schreibt Becker.
Massentierhaltung als tödliche Gefahr
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Industrielle Viehzucht bedeutet heute gleichzeitig Virenzucht, legt Wallace dar. Immer neue Erreger entstehen in der Massentierhaltung. Becker erklärt das so: „Die industrielle Fleisch- und Eierproduktion drängt Nutztiere auf engem Raum zusammen und schwächt ihr Immunsystem auf vielfältige Weise. Sie schaltet die natürliche Auslese aus und verhindert eine Anpassung der Fortpflanzung vor Ort.“
Gleichzeitig würden die großen transnationalen Fleischproduzenten bei Tierseuchen kleinere Hersteller aus dem Markt drängen. Diese könnten sich beispielsweise Massenschlachtungen nach dem Ausbruch von Krankheiten nicht leisten. Parallel dazu gibt es das Problem, dass die Züchtung genetischer Monokulturen in der Massentierhaltung Pandemien begünstigt. Sie beseitige, so Becker, natürliche Immunschranken, die Übertragungen andernfalls verlangsamen würden. Die Influenza und große Lebensmittelkonzerne gingen so eine „strategische Partnerschaft“ ein, schreibt Wallace.
Die Folge: Die Player im Agrarbusiness müssen immer mehr Impfungen und antibiotische Mittel einsetzen. Aber immer neue antibiotische Mittel führen zu immer neuen Resistenzen. Damit ist also nichts gewonnen. Und Wallace warnt vor einem weiteren Problem: „Medikamentenrückstände können mittlerweile in der Umwelt nachgewiesen werden, sogar in biologisch wirksamen Konzentrationen.“
Das beste System, um Krankheiten zu züchten
Die Verbindung von intensiver Landwirtschaft und Seuchenausbrüchen analysierte im Juni 2020 auch das globale Investorennetzwerk FAIRR – antikapitalistischer Überzeugungen eher unverdächtig. Die Studie von FAIRR kam zum Schluss, dass mehr als 70 Prozent der größten Fleisch-, Fisch- und Milchproduzenten ein „hohes Risiko“ im Pandemie-Ranking hätten. Kein einziger der 60 größten Konzerne hätte ein „niedriges Risiko“.
Die Sicherheitsstandards für die Beschäftigten seien ebenso zu niedrig wie die Sicherheit der Lebensmittel. Dazu kämen die Abholzung der Wälder, das fehlende Wohlergehen der Tiere und der Einsatz von Antibiotika. „Die Massentierhaltung ist sowohl anfällig für Pandemien als auch schuld daran“, sagt FAIRR-Gründer Jeremy Coller.
Krankheiten springen von Tieren auf den Menschen über
Auch andere warnen. Unter ihnen etwa die Wissenschaftlerin Jane Goodall, die durch ihre Erkenntnisse über Menschenaffen weltberühmt wurde. Am Beginn der Corona-Pandemie sagt sie im Guardian: „Wir haben uns das selbst zuzuschreiben, weil wir Tiere und Umwelt absolut nicht respektieren.“ Die „Respektlosigkeit gegenüber wilden Tieren und unsere Respektlosigkeit gegenüber Nutztieren“ hätte dazu geführt, „dass Krankheiten auf den Menschen übergreifen und ihn infizieren können.“
Auch der österreichische Lebensmittelwissenschaftler Kurt Schmidinger sagt im ORF: Covid-19 hätte ihn „nicht überrascht, denn die Pandemien wurden vorausgesagt. Ebenso wie die Antibiotikaresistenzen durch den Einsatz in der Massentierhaltung.“ Die Folgen sind eindeutig.
Immer neue Krankheiten tauchen auf
Wallace nennt allein seit dem Jahr 2000 eine Vielzahl neuer Viren, darunter etwa neue Stämme der afrikanischen Schweinepest, Ebola, die Vogelgrippe, Hepatitis E oder Zika-Viren – die Liste im Buch von Wallace ist weit länger. „Und fast nichts wurde gegen irgendeinen dieser Erreger unternommen“, kritisiert der Wissenschaftler. Er nennt das ein „epidemiologisches Glücksspiel“.
Der Befund des Epidemiologen: „Die Agrarindustrie ist so auf Gewinn ausgerichtet, dass die Entscheidung für ein Virus, das eine Milliarde Menschen töten könnte, das Risiko wert zu sein scheint.“ Wovon die meisten Fachleute also überzeugt sind: Die nächste Pandemie kommt bestimmt. Doch wenn wir Abholzung der Regenwälder und die Massentierhaltung beenden, können wir die Gefahr zumindest verringen. Und wir sollten nicht erst reagieren, wenn viele von uns krank werden oder sogar sterben.
In einer ersten Version wurde auf Basis der WHO-Aussendung berichtet, dass der Patient jedenfalls an Vogelgrippe gestorben wäre. Der Artikel wurde nach neuen Erkenntnissen am 9. Juni überarbeitet und um die Stellungnahme des mexikanischen Gesundheitsministeriums sowie eine weitere Stellungnahme der WHO aktualisiert.
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