Interview mit AIB: Der österreichische Fachjournalist Michael Bonvalot über junge Neonazis, Schwarz-Blau, die türkischen „Grauen Wölfe“ – und warum ihn „Identitären“-Sprachrohr Martin Sellner verklagt.

[Interview im Antifaschistischen Infoblatt, Ausgabe 3.2020]

AIB: Du beschäftigst Dich seit Jahren mit der extremen Rechten in Österreich. Wie schätzt Du die Lage ein?

Das bringt unterschiedliche Entwicklungen. Junge Neonazis können sich in Österreich seit vielen Jahren entscheiden: Wollen sie ins Parlament oder ins Gefängnis? Die meisten entscheiden sich fürs Parlament. Im Gegenzug bedeutet das auch, dass die außerparlamentarische extreme Rechte in Österreich deutlich kleiner und weniger militant ist als in Deutschland. Gleichzeitig kommen verschiedene Phänomene, die wir aus Österreich gut kennen, in Deutschland erst an.

AIB: Was meinst Du da konkret?

Bonvalot: Das betrifft etwa die Rolle der Burschenschaften. In Deutschland hatten diese Kräfte vor der AfD keine wahnsinnig große Bedeutung und rücken jetzt erst langsam ins Bewusstsein. In Österreich dagegen bilden sie traditionell den Kaderkern der FPÖ und hatten so schon lange eine wesentliche Bedeutung. Dazu passend ein weiteres Phänomen: In periodischen Abständen wird nun auch in Deutschland medial verkündet, dass die AfD jetzt endgültig auf dem absteigenden Ast sei. Ich kenne das in Österreich seit 30 Jahren – es hat nie gestimmt.

Nun hat sich allerdings bei der FPÖ sogar Ex-Parteichef Heinz-Christian Strache von seiner eigenen Partei abgespalten. Für die Gemeinderatswahl in Wien am 11. Oktober kandidiert Strache mit seiner neuen Partei ja sogar gegen die FPÖ. Er setzt dabei stark auf die sogenannten Corona-Mobilisierungen. Für den Einzug in den Gemeinderat bräuchte Strache fünf Prozent. Ob er das schafft, ist ungewiss. Falls es ihm gelingt, könnte er seine Partei österreichweit etablieren. Im Großraum Wien lebt rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Jede Entwicklung im Wien hat damit bundesweit enormes Gewicht.

Sorgen muss sich die FPÖ vor allem um die ÖVP machen. Unter Bundeskanzler Sebastian Kurz ist die ÖVP klar nach rechts gerückt. Bereits als Kurz 2017 ÖVP-Obmann wurde, hatte er mit seinem Stab festgelegt, dass auf „FPÖ-Themen“ gesetzt werden solle. Unter der schwarz­-blauen Koalition von ÖVP und FPÖ hat sich Kurz dann endgültig als Führer des rechten Lagers positioniert.

AIB: Du hast die „Corona-Aufmärsche“ angesprochen? Wie schätzt Du die ein?

Bonvalot: Corona-Mobilisierungen gibt es bereits seit dem Frühjahr in den meisten größeren Städten. Getragen werden die Mobilisierungen eindeutig von der extremen Rechten. Zu Beginn waren zwar noch andere Kräfte aktiv, diese hatten sich aber nie glaubwürdig von der extremen Rechten dis­tanziert. Mittlerweile ist die extrem rechte Stoßrichtung aber eindeutig, die Szene scheint sich auch schnell zu radikalisieren. In den einschlägigen Telegram-­Gruppen werden Antisemitismus und Qanon-Propaganda verbreitet, an den Aufmärschen nehmen einschlägig bekannte Kader teil, etwa Burschenschafter und Abordnungen der neofaschistischen Gruppe „Identitäre Bewegung“ (IB).

Für die breitere Öffentlichkeit sichtbar wurde das Anfang September. Da zerrissen rechte AktivistInnen bei einem „Corona-­Aufmarsch“ in Wien auf der Bühne vor rund tausend johlenden TeilnehmerInnnen eine Regenbogenfahne. Beim gleichen Aufmarsch konnten Personen mit einer deutschen Reichsflagge von der Bühne ihre Propaganda verbreiten, neben der Bühne positionierten sich „Identitäre“ mit einem Banner mit dem Spruch „Heimatschutz statt Mundschutz“. Ende August war auch mindestens eine Person mit Verbindung zur Neonazi-Kleinpartei „Der III. Weg“ bei einem Aufmarsch präsent.

AIB: Du hast die „Identitären“ angesprochen. Wie siehst Du deren Entwicklung?

Bonvalot: Die Gruppe ist vor allem ab 2015 sehr schnell gewachsen. Das haben sie nicht durchgehalten und müssen jetzt leiser treten. Dennoch gibt es sicher eine bestimmte Konsolidierung. Aktuell dürften die „Identitären“ in rund 10 bis 15 Städten Strukturen haben. Dazu kommen zumindest ein Zentrum in der Steiermark und ein geplantes Zentrum in Wien, wo gerade ein Keller renoviert wird, den die Gruppe angekauft hat. Auch in Linz dürfte die Gruppe nach Räumlichkeiten suchen, nachdem sie auf öffentlichen Druck aus einer FPÖ-nahen Burschenschaft geflogen war.

Öffentlich treten die „Identitären“ aktuell fast nur noch über ihren neuen Tarnverein „Die Österreicher“ (D05) auf. Der Name an sich stellt bereits eine Provokation dar: 05 war der Name einer Widerstandsbewegung gegen das NS-Regime. Gleichzeitig ist das Umschwenken auf den neuen Namen auch ein Hinweis auf den Druck, den die „Identitären“ spüren. Ab Sommer 2018 standen 17 Mitglieder der Gruppe unter dem Vorwurf der Gründung einer kriminellen Vereinigung vor Gericht. Obwohl die rechten AktivistInnen schließlich freigesprochen wurden, hat das der Gruppe sicher geschadet.

Dazu kamen noch die Mails zwischen „Identitären“-­Sprachrohr Martin Sellner und dem späteren Christchurch-Attentäter, die im Mai 2019 bekannt wurden. Sowohl das Finden von Orten für Veranstaltungen wie vermutlich auch die Rekrutierung wurden danach wohl nicht einfacher. D05 ist nun offenbar der Versuch, dieses Problem in den Griff zu bekommen.

AIB: Wie sieht es mit dem extrem rechten Milieu jenseits der „Identitären“ aus?

Bonvalot: Die traditionellen NS-Nazis sind weiterhin eher auf Tauchstation, ein wesentlicher Grund dafür ist sicherlich das NS-Verbotsgesetz, das für sogenannte Wiederbetätigung auch hohe Haftstrafen vorsieht. Das war übrigens ein wesentlicher Grund für die Gründung der „Identitären“: National­sozialismus ist in Österreich verboten, Neofaschismus aber erlaubt. Diese Lücke haben die „Identitären“ genutzt. Doch natürlich ist das NS-Milieu weiter existent und auch aktiv. Die österreichische extreme Rechte ist zwar, wie vorhin erwähnt, weniger militant als die deutsche. Dennoch gab es in den vergangenen Jahren hunderte Attacken auf Flüchtlingsunterkünfte.

In der NS-Szene zentral sind sicherlich vor allem die Strukturen rund um Gottfried Küssel, den langjährigen Führer der österreichischen Neonaziszene. Küssel ist seit 2019 wieder in Freiheit, nachdem er ab 2011 wegen Wiederbetätigung im Gefängnis gesessen hatte. Daneben existieren wohl auch „Blood & Honour“/“Combat 18“-Strukturen, vor allem in Vorarlberg, also an der Grenze zu Baden-Württemberg, Bayern und zur Schweiz. Und schließlich sollten wir auch die sogenannten Reichsbürger nicht vergessen. Hier kursieren Zahlen von 1 000 bis 3 000 UnterstützerInnen in Österreich. Dazu kommt schließlich noch die christliche Rechte, doch das nur der Vollständigkeit halber.

AIB: Jenseits der deutschsprachigen extremen Rechten hast Du auf deiner Homepage viel zu den türkischen „Grauen Wölfen“ geschrieben.

Bonvalot: In der breiteren Öffentlichkeit sind die „Grauen Wölfe“ bisher kaum aufgetaucht. Das hat sich Ende Juni 2020 geändert. Da hatten „Graue Wölfe“ und andere türkische Rechte über mehrere Tage Demonstrationen von Linken aus Kurdistan, der Türkei und Österreich im Wiener Arbeiter_innenbezirk Favoriten angegriffen.

Auch das linke Kulturzentrum EKH wurde wiederholt attackiert. Ich war fast die ganze Zeit vor Ort, das waren heftige und gefährliche neofaschistische Angriffe. Es zeigt für mich auch, dass sich Antifaschist_innen in Österreich wesentlich mehr mit den verschiedenen neofaschistischen Strömungen beschäftigen müssen.

AIB: Zum Abschluss: Du führst aktuell einen Prozess gegen Martin Sellner. Worum geht es?

Bonvalot: Anfang September hat mich Sellner wegen übler Nachrede und nach dem Medienrecht verklagt. Er behauptet, dass meine Berichterstattung von einer Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern der „Identitären“ und Antifaschist_innen nicht korrekt gewesen wäre. Da könnten mehrere 10.000 Euro an Kosten auf mich zukommen, aktuell sammle ich Spenden für den Prozess. (Wenn ihr den Prozess unterstützen wollt, könnt ihr das auf bonvalot.net/support tun).

Dass Sellner gerade mich verklagt, ist kein Zufall, denn meine Recherchen gehen den „Identitären“ bereits seit Jahren auf die Nerven. Und nun versuchen sie mich eben mit einer potentiell existenzbedrohenden Klage mundtot zu machen. Das wird aber sicher nicht gelingen.

(Michael Bonvalot ist Journalist, Vortragender und Autor in Wien. Seine Schwerpunkte sind die extreme Rechte, Fanszenen, Flucht und Migration sowie Sozialpolitik. Er schreibt unter anderem für den ORF, für „Neues Deutschland“ und auf seiner eigenen Seite bonvalot.net. Zuletzt erschien von ihm „Die FPÖ – Partei der Reichen“.)

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