Hunderte geflüchtete Menschen sind derzeit in Bosnien vom Kältetod bedroht. Eine humanitäre Katastrophe, nur 220 Kilometer von der österreichischen Grenze. Ein Interview mit dem Wiener Flüchtlingshelfer Oskar aus dem Lager Lipa.

Michael Bonvalot: Oskar, Du unterstützt derzeit mit der NGO SOS Balkanroute geflüchtete Menschen an der EU-Außengrenze in Bosnien. Unter anderem bist Du im berüchtigten Lager Lipa aktiv. Wie ist die aktuelle Situation vor Ort?

Oskar: Das Lager Lipa wurde am 29.12. geräumt, aktuell ist die Lage katastrophal. Wir haben zuerst noch bei der Verteilung von Sachspenden und Nahrung geholfen. Dann hat die Polizei die Menschen aus dem Lager gedrängt und das Lager geräumt. Heute Nachmittag [Anm.: am Mittwoch, dem 30.12.] sitzen die Menschen immer noch in den Bussen.

Wie viele Menschen sitzen in den Bussen fest und wie ist ihre Lage?

Es kursieren verschiedene Zahlen. Wir schätzen auf Basis der Anzahl der Busse und der Wasserverteilung rund 650 Menschen. Es ist extrem kalt. Es gibt zwar kleine Lunchpakete, aber insgesamt zu wenig zu essen. Soweit wir es überblicken, dürfen die Menschen die Busse nur für den Gang auf die Toilette verlassen.

Verschiedene Medien berichten, dass die Menschen eigentlich in ein anderes Lager übersiedeln sollten?

Das stimmt. Ursprünglich war geplant, dass die Menschen in eine ehemalige Kaserne in die Nähe von Sarajevo kommen. Doch dort gab es rechte Proteste, daraufhin wurde die Übersiedelung offenbar gestoppt. Die Situation ist wirklich herzzerreißend. Die Menschen waren ursprünglich positiv gestimmt, weil sie endlich das Schreckenslager Lipa verlassen konnten. Jetzt sitzen sie in den Bussen fest.

[Update aus Lipa, 30.12. 19.30h: „Die Leute wurden nun aus den Bussen wieder zurück ins Lipa Camp gebracht, die Busse sind leer abgefahren. Die Zelte in Lipa wurden allerdings zerstört. Wir wissen nicht, wo und wie die Leute jetzt schlafen sollen. Die IOM, die offiziell für das Camp zuständig ist, hat öffentlich bestätigt, dass es so gut wie keine Unterkünfte für heute Nacht gibt. Laut UN und Anzahl der Busse handelt es sich um 900 Menschen.“]

https://www.standpunkt.press/solange-es-kriege-gibt-werden-menschen-fluechten-630/

Aktuell gibt es zumindest mediale Aufmerksamkeit für das Thema. Es ist absurd. Offensichtlich musste das Lager zuerst brennen, damit die Öffentlichkeit sich darum kümmert.

Was ist bei dem Brand vor einigen Tagen passiert?

Die offizielle Version ist, dass einige Menschen im Lager mehrere Zelte angezündet hätten, nachdem das Lager geschlossen wurde. Ursprünglich sollte Lipa Winter festgemacht werden, doch dann wurde die Räumung beschlossen. Von den Menschen aus dem Camp hören wir aber durchgehend, dass andere Personen das Lager angezündet hätten.

Wie viele Menschen sind aktuell in Bosnien insgesamt bedroht?

Insgesamt leben in Bosnien aktuell vermutlich rund 7000 geflüchtete Menschen, davon 5000 im Kanton Una-Sana. Dort sind sowohl das Lager Lipa nahe Bihać wie die Lager rund um Velika Kladuša, wo wir ebenfalls helfen. Velika Kladuša ist gerade einmal rund 220 Kilometer von der österreichisch-slowenischen Grenze entfernt.

Insgesamt schätzen wir, dass allein in Velika Kladuša rund tausend geflüchtete Menschenleben, viele davon in verlassenen Häusern oder sogar im Wald. Das ist unmenschlich und lebensbedrohlich.

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Seit Tagen wird das Wetter immer schlimmer. Was bedeutet das für die Menschen?

In den letzten drei Tagen ist wiederholt Schnee gefallen. Vor ein paar Tagen sind innerhalb kürzester Zeit rund zehn Zentimeter Neuschnee runtergekommen. Es gab einmal sogar die Gefahr, dass eines der großen Zelte in Lipa unter der Schneelast komplett zusammenbricht.

Es ist saukalt und es weht ein eiskalter Wind. Die Temperaturen sind nachts rund um den Gefrierpunkt, für die nächsten Tage sind gefühlte Temperaturen von bis zu minus sieben Grad angekündigt. Im Winter kann es in Bosnien bis zu minus 20 Grad bekommen. NGOs versuchen jetzt zu helfen, indem sie Öfen bauen und verteilen.

Die Situation ist wirklich lebensbedrohlich. Menschen werden sterben, wenn nicht schnell etwas passiert. Es ist Moria direkt vor unserer Haustür.

Wie gut könnt ihr überhaupt helfen?

Derzeit sind HelferInnen aus Wien, Graz und Innsbruck vor Ort. Die Behörden versuchen aber alles, um unsere Arbeit zu erschweren. Unsere humanitäre Hilfe ist illegal, wir müssen alles bei Nacht machen. Das macht etwa die Essensausgabe extrem kompliziert. Offiziell durften wir auch nicht ins Lager Lipa. Wenn wir bei der humanitären Hilfe entdeckt werden, dann droht uns die Abschiebung.

Wie ist die medizinische Situation?

Die Behandlung medizinischer Notfälle ist unter diesen Bedingungen extrem schwierig. Krätze kann beispielsweise nur erfolgreich behandelt werden, wenn es frische und trockene Schlafsäcke und Kleidung gibt. Davon gibt es aber zu wenig. Fußverletzungen heilen im Wald nicht, wenn alles nass ist und nicht einmal die Pflaster halten. Die Menschen sind Lebensumständen ausgesetzt, die Heilung und Erholung fast nicht möglich machen.

Ob es Fälle von COVID-19 gibt, wissen wir schlichtweg nicht. Es sind keine Tests vorhanden. Wir selbst schützen uns mit FFP2-Masken. Unsere größten Bedrohungen sind aber aktuell sicherlich die Kälte, der Hunger sowie Verletzungen nach illegalen Push-Backs der EU-Grenzsoldaten.

Worum geht es da?

Die EU-Grenzsoldaten aus Kroatien sowie von Frontex greifen an der Grenze Menschen auf und schicken sie dann mit Gewalt zurück nach Bosnien. Das ist illegal und gegen die Genfer Menschenrechtskonvention, rechtlich müssten Asylanträge angenommen werden. Doch es geht sogar noch weiter, denn die Menschen werden bei den Push Backs auch systematisch gefoltert.

Die Menschen werden mit Metallstangen geschlagen, die Schuhe werden ihnen abgenommen, sie werden gefoltert. Dazu werden Handys zerstört, immer wieder werden Menschen verletzt aufgefunden. Das alles ist gut dokumentiert, es gibt dazu zahlreiche Bilder und Videos.

Wer trägt für die Situation die Verantwortung?

Es wäre zu einfach, nur die lokalen bosnischen und kroatischen Behörden verantwortlich zu machen. Die EU-Staaten sind aktive Täter, sie produzieren bewusst diese humanitäre Katastrophe. Wie schnell es gehen könnte, zeigt das aktuelle Erdbeben in Kroatien, wo auch unmittelbar geholfen und gehandelt wird. Die politische Verantwortung für die möglichen Toten liegt in Wien, Berlin und Brüssel.

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