Zwei wohnungslose Männer wurden in Wien ermordet, eine unterstandslose Frau wurde schwer verletzt. Warum werden gerade wohnungslose Menschen so oft Opfer von Gewalt und Mord?

Die drei Opfer im Sommer 2023 hatten keine Chance. Die beiden Männer wurden vom damals 16-jährigen Beschuldigten in Wien ermordet worden, während sie auf der Straße schliefen. Eine ebenfalls schlafende Frau hat der Jugendliche schwer verletzt. Auch seine Mutter verletzte der junge Österreicher, bevor er sich schließlich im Dezember 2023 selbst stellte.

Nun folgte das Urteil am Landesgericht Wien: Zwölf Jahre Haft und Einweisung in ein forensisch-therapeutisches Zentrum wegen einer nachhaltigen Persönlichkeitsstörung. Der inzwischen 18-jährige Angeklagte hat die Tat gestanden, die Strafe angenommen und sich bei den Geschworenen bedankt. Die Staatsanwaltschaft dagegen hat Berufung eingelegt, wie es auf meine Anfrage heißt. Das Urteil ist damit nicht rechtskräftig.

Bild: Michael Bonvalot

Doch hier soll es nicht um Chronik-Berichterstattung im Stil des Boulevards gehen. Sondern um eine viel tiefergehende Frage: Warum werden gerade wohnungslose Menschen immer wieder zu Opfern?

„Die Opfer mussten leicht verfügbar sein“

Die Wohnungslosigkeit der Opfer sei kein Motiv gewesen, meinte Gerhard Winkler vom Landeskriminalamt Wien, nachdem sich der Täter im Dezember 2023 gestellt hatte. Doch Winkler sagte bei der damaligen Pressekonferenz über die Opfer auch: „Sie mussten drei Kriterien entsprechen. Die Opfer mussten leicht verfügbar sein, er musste ungestört sein und die Opfer mussten in gewisser Weise wehrlos sein.“

Und das ist eine Beschreibung, die offensichtlich vor allem auf wohnungslose Menschen zutrifft.  Der Täter wäre zurechnungsfähig gewesen, sagte die Kinder- und Jugendpsychiaterin Kathrin Sevecke vor Gericht. Doch seine Taten hätte er „ritualhaft“ ausgeführt. Dazu hätte er vor den ersten Tötungsdelikten die Droge Ketamin konsumiert.

Der Täter selbst sagt vor Gericht: Der erste Mord am 12. Juli 2023 nahe des Wiener Handelskais hätte ihm eine Erfüllung gegeben, die er so nicht kannte: „Es war das, was ich gesucht habe.“

Emotionaler Missbrauch in der Kindheit

Gleichzeitig attestiert Psychiaterin Sevecke dem jungen Mann eine posttraumatische Belastungsstörung infolge einer „deutlich familiären Belastung“ und eines „emotionalen Missbrauchs“ in der Kindheit. Bereits in der Volksschule habe er geäußert, eine Mitschülerin umbringen zu wollen – was nicht weiter beachtet worden sei.

Und das ist gleichzeitig eine vernichtende Kritik am Zustand unseres Bildungssystems. Ein Kind, selbst traumatisiert, äußert Mordfantasien. Und offenbar fehlen die Ausbildung und die Ressourcen, um dieses Kind ausreichend zu unterstützen und das Problem zu bearbeiten. Es zeigt erneut, wie notwendig kleine Klassen mit genug Zeit für jedes Kind sowie sozialarbeiterische und psychologische Unterstützung an allen Schulen wären.

Der Mörder hat sein Opfer „übertötet“

Es ist nicht das erste Mal, dass ein wohnungsloser Mensch in Österreich zum Opfer wird. „Der gesamte Gesichtsschädel des Opfers war zu Brei zermalmt. Alles hat sich bewegt. Der 53-jährige Mann ist an Blut, Knochenbruchfragmenten und Zähnen erstickt, die ihm durch die enormen Misshandlungen in die Tiefe hineingeschlagen worden waren.“ So beschreibt der Gerichtsmediziner laut Kurier beim Prozess, wie Jürgen K. im März 2009 einen Menschen zu Tode geprügelt hat. K., ein bekannter Neonazi, Hooligan und Kampfsportler, soll sein Opfer zufällig ausgewählt haben.

Er hätte den Passanten Albrecht M. auf der Rotenturmstraße im ersten Wiener Gemeindebezirk einfach niedergeschlagen und mit Fußtritten dessen Kopf zerschmettert, wie der Kurier damals berichtet. Ein Ermittler der Mordgruppe spricht im Zeugenstand von „Übertöten“: „Das Opfer war schon tot, trotzdem ist noch massive Gewalt ausgeübt worden.“

Jürgen K. zeigt keine Reue

Beim Prozess zeigt der damals 23-jährige Täter keine Reue: Bei den Ausführungen des Gerichtsmediziners stochert K. laut Medienberichten bloß in seinen Zähnen herum. Er wird rechtskräftig zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt, im Anschluss soll er in den Maßnahmenvollzug überstellt werden.

Der frühere rechte Treffpunkt „Alm“ in Wien-Leopoldstadt bei einem Lokalaugenschein im November 2024. Bild: Michael Bonvalot

Vor der Tat war Neonazi K. noch mit Freunden im Wiener Ausgehviertel Bermuda-Dreieck unterwegs – laut Standard möglicherweise in einem Lokal, das als Treffpunkt der extrem rechten Hooligan-Szene galt. Warum K. anschließend sein Opfer tötete, lässt sich auch im Prozess nicht klären.

„vermutlich obdachlos“

Doch ein Bekannter des Mordopfers verfasst später einen Gastkommentar in der Wiener Zeitung: Albrecht M. sei „ärmlich gekleidet“ gewesen. Und: „wegen seiner schäbigen Kleidung galt er als ‚vermutlich obdachlos'“. Wohnungslose Menschen sind seit vielen Jahren ein bevorzugtes Ziel von Gewaltakten von Neonazis und von anderen Tätern, denen es an Empathie mangelt.

Und auch K. wurde der Nazi-Szene zugerechnet, genauer: Dem konspirativen Untergrund-Netzwerk „Blood and Honour“ (BH, deutsch: Blut und Ehre), einer internationalen Neonazi-Organisation. So zumindest steht es in einer parlamentarischen Anfrage aus dem Jahr 2010. Ob der Mord an Albrecht M. einen unmittelbar politischen Hintergrund hatte, muss dennoch unklar bleiben. Doch gut dokumentiert ist, wie die Neonazi-Szene auf die Tat reagiert: Sie zeigt sich solidarisch mit dem Mörder.

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Im einschlägigen und inzwischen abgebrannten „Gasthaus zur Alm“ in der Wiener Innstraße findet im Juni 2009 sogar ein Konzert statt, das von Beobachter:innen als Solidaritätskonzert für K. interpretiert wird. Auch die neofaschistische Gruppe Identitäre organisierte dort zumindest eine öffentliche Veranstaltung.

Ein rostiges Denkmal in Innsbruck

An der Promenade des Inn in der Tiroler Landeshauptstadt Innsbruck steht ein rostiges Denkmal. Was es darstellen soll, ist unklar. Es sieht ein wenig wie ein Boot mit einem Mast und Segeln aus. Vielleicht ist es auch eine Maschine oder ein undefiniertes Tier. Für Kinder wirkt es sicher sehr einladend, vielleicht ist es ja ein Klettergerüst? Nur wer sehr genau hinsieht, wird eine kleine Inschrift erkennen: „26.2.1994 Ermordung eines Obdachlosen“. Der Name dieses Menschen steht nirgends auf dem Denkmal.

Das Denkmal für Wolfgang Tschernutter in Innsbruck. Bild: Michael Bonvalot

Tatsächlich soll dieses Denkmal an Wolfgang Tschernutter erinnern, der im Februar 1994 zu Tode geprügelt worden ist. Der damals 37-jährige war wohnungslos gewesen, er musste im Freien übernachten. Auch in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1994, wo er vor dem Hallenbad Höttinger Au schlief. Am Inn, genau gegenüber der Uni Innsbruck.

Zwei junge Männer schlugen Wolfgang Tschernutter tot

Die beiden jungen Täter schlugen ihn mit einem Vierkantholz tot. „Mindestens drei Schläge auf den Hinterkopf bewirkten eine Schädelzertrümmerung. Die Summe aller Hiebe war tödlich“, so Gerichtsmediziner Walter Rabl beim Prozess gegen die Täter, über den die Tiroler Tageszeitung im Juni 1994 berichtet hat. Tschernutter hatte keine Chance.

Er wurde offenbar im Schlaf überrascht, der Gerichtsmediziner fand am Toten keine Abwehrverletzungen. Der ideologische Hintergrund der Tat ist eindeutig: „Die Wehrunfähigen gehören weg“, hätte einer der Täter mehrmals erklärt, so der Staatsanwalt in seinem Plädoyer. Sie wollten den „Kartoffelsalat“, so nannten sie Wolfgang Tschernutter, „tratzen“.

„Ärgern“ mit einem Vierkantholz

„Tratzen“, das bedeutet „ärgern“ oder „necken“. Das hatten die beiden offenbar schon in den Tagen davor getan – indem sie den friedlichen Mann mit Bierdosen und Steinen bewarfen. Auch diesmal wollten sie ihn „ärgern“. Mit einem Vierkantholz. Bis sie ihn totgeprügelt hatten. Mindestens einer der Täter hätte „Kontakte mit der rechtsradikalen Szene“ gehabt, so der Staatsanwalt.

Die beiden jungen Täter, einer 14 und einer 16, agierten dabei nicht im luftleeren Raum: „Diese Tat geschah in einem aufgeheizten, von Hass auf sogenannte Sozialschmarotzer, Penner, Sandler oder Punks, geprägten Klima“, heißt es im Aufruf zu einer Erinnerungskundgebung an Tschernutter, geschrieben von der langjährig aktiven Tiroler Wohnungsloseneinrichtung DOWAS.

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Gefoltert, gekreuzigt, ermordet

Morde mit ähnlichen Motiven gab es zu dieser Zeit nicht nur in Österreich: Im Oktober 1993 etwa, nur wenige Monate vor dem Mord in Innsbruck, hatten zwei Jugendliche einen wohnungslosen Mann in Halle in Sachsen-Anhalt zuerst gefoltert und dann gekreuzigt (!). Der Mann starb an den Folgen der Folter.

Und in Innsbruck hatten schon in den Monaten vor dem Mord Stadtpolitiker:innen und Boulevard gegen wohnungslose Menschen gewettert, so das DOWAS. Die Hetzer:innen wollten die Menschen mit „Putz und Stingl“ aus dem öffentlichen Raum entfernen.

Der Kampf gegen arme Menschen

„Armut, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit wurde in der öffentlichen Debatte als krimineller Sachverhalt diskreditiert, ein härteres Vorgehen gegenüber dem ‚arbeitsscheuen Gesindel‘ gefordert“, beschreibt das DOWAS die damalige Lage – die sich im Übrigen in keiner Weise von heutigen einschlägigen Kampagnen unterscheidet. Dazu gehört übrigens auch die stillschweigende Verdrängung der betroffenen Menschen aus dem öffentlichen Raum, etwa mit bewusst wohnungslosen-feindlicher Architektur.

Bewusst wohnungslosen-feindliche Architektur in Wien. Die Lehnen verhindern, dass sich jemand liegend auf der Bank ausruhen kann. Bild: Michael Bonvalot

Nähere Hintergründe zu den beiden Mördern von Tschernutter sind heute nicht mehr aufzufinden. Auch in damaligen Medienberichten wurden (wohl aufgrund des jugendlichen Alters der Täter) kaum nähere Angaben gemacht, es gibt keine Namen. Es ist damit auch nichts darüber bekannt, wie gut die beiden damals in die extrem rechte Szene eingebunden waren – oder es vielleicht sogar bis heute sind.

Nur die Spitze des Eisbergs

Tödliche Gewalt ist dabei allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Fast überhaupt nicht wahrgenommen werden die fast alltäglichen Angriffe auf wohnungslose oder marginalisierte Menschen. Die Opfer selbst gehen auch selten zu den Behörden – mit guten Gründen haben sie meist wenig Vertrauen in die Polizei.

Bekannt werden solche Angriffe damit meist nur, wenn Behördeneinsätze notwendig werden, die größeres Aufsehen mit sich bringen. Das war etwa 2016 nach einer Serie von Brandanschlägen auf Zelte in Linz der Fall.

Menschen aus der Roma-Minderheit hatten dort gelebt, verletzt wurde glücklicherweise niemand. Die Opfer waren also sowohl wohnungslos wie Angehörige einer verfolgten Minderheit. Der oder die Täter:innen wurden nie gefunden – doch es wäre nicht überraschend, wenn sie in der lokalen rechten Szene zu finden wären.

Der politische Hintergrund wird oft ausgeblendet

In Österreich gibt es eine bekannte Tendenz im Umgang vor allem mit rechter Gewalt: Täter werden zu Einzeltätern erklärt, ihre Taten werden entpolitisiert und sie selbst werden pathologisiert. Umgangssprachlich: Sie werden einfach als unzurechnungsfähig erklärt.

Der bekannteste Fall ist der Neonazi-Mörder Franz Fuchs, der 1999 für vier Morde und mehreren Briefbomben-Serien mit zahlreichen Verletzten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.

Zum Verrückten erklärt

Fuchs wurde medial zum Verrückten erklärt, seine ideologische Motivation dagegen wurde weggewischt. Obwohl sie in den zahlreichen Bekennerschreiben umfangreich dargestellt war. Bis heute gibt es übrigens zahlreiche begründete Zweifel, ob Fuchs tatsächlich ein Einzeltäter war. Meine Recherche dazu könnt ihr hier lesen.

Bei der aktuellen Mordserie in Wien wurden bisher keine ideologischen Motive bekannt (was gleichzeitig klarerweise kein Beleg ist, dass es sie nicht gegeben hat). Doch sicher scheint, dass es beim Täter massive psychiatrische Auffälligkeiten samt dem Fehlen von Empathie gab. Diese Auffälligkeiten führten ja auch zur Einweisung des Täters in ein forensisch-therapeutisches Zentrum, die das Erstgericht – nicht rechtskräftig – verfügt hatte. Doch auch psychiatrisch auffällige Täter:innen agieren letztlich nicht im luftleeren Raum.

„Ideen, die in der Luft liegen“

Das bestätigt auch die bekannte Gerichtsgutachterin Heidi Kastner. Mit ihr hatte ich schon vor einiger Zeit über den Täter Johann N. aus Oberösterreich gesprochen, Der wollte schwerbewaffnet im Juli 2011 in Traun bei Linz ein rassistisches Massaker anrichten. N. war offensichtlich psychisch krank, wie Kastner feststellt. Vor seinem geplanten Amoklauf hatte er ein wirres politisches Manifest veröffentlicht.

Doch Gerichtsgutachterin Kastner sagt auch: Das Manifest bezog sich auf „Themen die in der Luft liegen, die greifbar sind“. Er hätte „die Ideologie in den Wahn eingebaut“. Personen wie er „bemächtigen sich der Ideen, die in der Luft liegen“.

„Hier darfst du töten“

In die gleiche Richtung geht auch eine Wiener Psychoanalytikerin, die aus beruflichen Gründen nicht namentlich genannt werden will: „Wenn Täter:innen die Empathie fehlt, werden in vielen Fällen besonders anfällige Menschen zu Opfern. Und das sind dann oft Menschen, die auch gesamtgesellschaftlich besonders unter Druck stehen.“

Als Beispiele nennt die Psychoanalytikerin „wohnungslose Menschen, Menschen mit Migrationsbiografie oder Menschen aus der Roma-Minderheit“. Die Täter würden die gesellschaftliche Aufheizung gegen diese Gruppen oft als Erlaubnis verstehen. Bei ihnen käme die Botschaft an: „Hier darfst du töten.“

Die nächsten Opfer verhindern

Viele Taten wirken vordergründig nicht politisch. Tatsächlich aber bauen Sie unmittelbar auf der menschenverachtenden Ideologie der Täter:innen und/oder auf der gesellschaftlichen Grundstimmung auf. Und damit muss auch die Auswahl der Opfer von Wien eine klare Warnung für die Zukunft sein.

Zur Erinnerung die Angaben aus der polizeilichen Pressekonferenz: Die Opfer sollten „leicht verfügbar“ sein, der Täter musste „ungestört sein“ und „die Opfer mussten in gewisser Weise wehrlos sein“. Diese Beschreibung trifft auf alle schlafenden, wohnungslosen Menschen zu.

Und zumindest diese Gefährdung könnte sehr einfach verringert werden. Wenn wohnungslose Menschen endlich den Wohnraum und die Unterstützung bekommen, die sie so dringend brauchen.

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