Bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua wurde am 20. Juli 2001 der junge Aktivist Carlo Giuliani von der Polizei erschossen. Ich war damals in Genua. Kurz vor Carlos Tod war ich noch an der Stelle, wo er später getötet wurde.
Es war klar, diese Demonstration würde ein neuer Höhepunkt der Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung werden: Die Mächtigen der Welt wollten sich im Juli 2001 in der italienischen Hafenstadt Genua zum G8-Gipfel versammeln, geschützt von zehntausenden Polizist:innen. Ausgerechnet in Genua mit seiner bekannt linken Tradition
Begonnen hatte die internationale Antiglobalisierungs-Bewegung vor allem mit den großen Demonstrationen im US-amerikanischen Seattle gegen die WTO-Konferenz im Dezember 1999. Dann kamen die Mobilisierung gegen die Sitzung der Weltbank im September 2000 in Prag und gegen den EU-Gipfel in Göteborg im Juni 2001. Und nun Italien. Nicht weit von Österreich – die Gelegenheit war also enorm günstig.
Ich wollte mir das vor Ort ansehen und fuhr mit Freund:innen nach Genua. Doch schon bei der Anfahrt wurde klar, dass es ungemütlich würde: Die Polizei hielt uns stundenlang an der Grenze auf, tat alles, um die Anreise zu verzögern.
Schließlich erreichten wir Genua mit enormer Verspätung und konnten unsere Zelte auf dem Rasen eines Stadions aufbauen, des Carlini-Stadion im Osten der Stadt. Meine ersten Eindrücke am 20. Juli, als die Demonstrationen schließlich losgingen: Große Gruppen von Demonstrant:innen, die in die Innenstadt strömten – an Armen und Beinen geschützt die mit Plastik und Schaumstoff. Ihre geplante Strategie: Mit der Macht ihrer Körper die Polizei zurückdrücken. Die Strategie sollte sich später als nutzlos erweisen gegen Unmengen von Tränengas.
Enorme Solidarität
Das Carlini-Stadion steht auf einer Anhöhe über der Innenstadt. Als wir losgingen, sahen wir bereits die ersten Rauchsäulen an verschiedenen Orten der Stadt aufsteigen. Insgesamt waren an diesem Tag schon mehrere zehntausend Menschen auf der Straße, um gegen den Gipfel zu protestieren.
Besonders beeindruckten mich die Menschen am Straßenrand – unter ihnen sogar Hausfrauen mit Schürzen – die den Demonstrant:innen applaudierten. Diese Solidarität sollte sehr schnell auch praktisch werden: Anwohner:innen verspritzten in der glühenden Hitze Wasser auf den Straßen oder verteilten es an die Demonstrant:innen.
Sturm auf die rote Zone
Genua hat eine enorm linke und kämpferische Tradition. Ich erinnere mich an eine Zeitung, die mir damals in Genua gezeigt wurde: Rund ein Viertel der Bevölkerung von Genua waren laut einer Umfrage damals dafür, dass die Demonstrant:innen sogar die sogenannte rote Zone gegen die Polizei stürmen sollten. Also den innersten Ring um den Gipfel der Mächtigen.
Die Situation eskalierte schnell. Luxusautos brannten. Es gab erste Auseinandersetzung zwischen Polizei und Demonstrant:innen. Es wurde auch sehr schnell klar, dass es keine Möglichkeit geben würde, bei Auseinandersetzungen einfach zur Seite zu gehen und sich so möglicher Polizeigewalt zu entziehen.
Er hatte Glück, er wurde „nur“ geschlagen
Es war völlig klar, dass jede Person, die für eine/n Demonstrant*in gehalten werden konnte, zusammengeschlagen würde. Ein Bekannter aus Österreich etwa wurde von der Polizei einfach nur mit Flugblättern in der Tasche angehalten. Er wurde geschlagen und dann laufen gelassen, wie er danach erzählte. Im Nachhinein wissen wir: Damit hatte er sogar noch enormes Glück – andere wurden schwer gefoltert.
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Überall in der Innenstadt gab es schließlich Kämpfe. Und dann schoss die Polizei. Der damals 23-jährige Carlo Giuliani wurde von einem Polizisten mit einem Kopfschuss getötet. Zuvor gab es Auseinandersetzungen, der Polizist schoss aus einem Polizeijeep auf Giuliani. Ich war rund 20 bis 30 Minuten zuvor noch genau an der Stelle, die später zum Schauplatz des Todes werden sollte.
Die Schüsse auf Carlo Giuliani
Zum Zeitpunkt, wo ich vor Ort war, war es dort noch verhältnismäßig ruhig – soweit in diesen Tagen und an diesem Ort von Ruhe gesprochen werden kann. In den nächsten Stunden eskalierte die Lage dann völlig. Vom Tod von Carlo erfuhr ich aber erst am Abend, wo die ersten Gerüchte über seinen Tod die Runde machten. Im Carlinie-Stadion malten Menschen ein erstes Graffiti zur Erinnerung an Carlo: „Assassinato dai carabinieri“ – „Von der Polizei ermordet“.
In den nächsten Jahren sollten vor allem seine Eltern dafür sorgen, dass auch die öffentliche Erinnerung und Empörung über den Tod von Carlo nicht verstummte. Seine Mutter, die Lehrerin Haidi Guilani, zog 2006 für die Partei der kommunistischen Wiedergeburt (PRC) sogar in den italienischen Senat ein.
Die Schüsse auf Carlo kamen an diesem Nachmittag allerdings auch nicht völlig überraschend. Mir war schon am Nachmittag klar, dass es hier nicht ohne schwere Verletzungen abgehen würde. Die Polizei schoss etwa enorme Mengen von Tränengas in die Demo, soweit ich mich erinnere, auch aus Hubschraubern. Es war jedenfalls unmöglich, schneller zu sein als das Tränengas
Wolken aus Tränengas
Ich war unzureichend geschützt und bekam kaum mehr Luft in der Tränengaswolke. Ich wollte da nur irgendwie raus. Ich erinnere mich noch genau an einen bestimmten Punkt, wo ich mir dachte, es geht einfach nicht mehr. Ich kann nicht mehr, egal was jetzt mit mir passiert.
Doch dann habe ich nur noch rund hundert Meter hinter mir große Mengen von Polizei gesehen, die schnell und offensichtlich gewaltbereit näher rückten. Irgendwie habe ich dann doch noch die Energie gefunden, um gemeinsam mit einer Freundin aus dem Zentrum der Tränengaswolke zu flüchten. Der erste Abend war dann noch verhältnismäßig ruhig. Doch vor allem nach dem Tod von Carlo war klar: Am nächsten Tag würde es heiß werden.
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Am nächsten Tag waren dann sogar bis zu 300.000 Menschen in der Stadt, um gegen den Gipfel der Eliten zu demonstrieren. Wieder erlebte ich sehr viel Solidarität von Anwohner:innen: Ein älterer Mann etwa zeigte mir einen Fluchtweg, als die Polizei auf einmal enorm schnell vorrückte. Denn es war bereits klar: In die Hände der Polizei zu fallen, das war enorm gefährlich.
Polizei-Provokateure in der Demo
Die Auseinandersetzungen mit der Polizei eskalierten diesmal am Piazzale Martin Luther King – direkt am Hafen und knapp vor der roten Zone, die die Polizei ausgerufen hatte. Strategisch betrachtet der dümmste Ort für die Demonstrant:innen und der mit Abstand beste Ort für die Polizei. Denn aufgrund der Hafenmauern bedeutete das, dass ein großer Teil der Demo faktisch nicht mehr weitergehen konnte. Dazu wurde auch noch das Begegnungszentrum der Demo-Organisation am Hafen weitgehend unbrauchbar gemacht.
Am Erdgeschoss eines Gebäudes brannte es sogar. Enorm gefährlich, enorm verantwortungslos. Bereits damals habe ich mich gefragt, wer so dumm ist, genau hier eine Auseinandersetzung zu beginnen. Heute wissen wir aus zahlreichen Bildern und Videos: Die Behörden selbst haben zahlreiche Polizisten in die Demo eingeschleust.
Später aufgetauchte Videos zeigen, wie vermeintliche Demonstranten der Polizei Anweisungen geben und sie kommandieren. Auch Neonazis der Partei „Forza Nuova“ waren vor Ort, wie später aus geheimen Dokumenten der Polizei bekannt wurde. Der italienische Staat ließ sie offensichtlich gewähren – mutmaßlich, um daraus resultierende Eskalationen der Linken in die Schuhe schieben zu können.
Die Rache der Polizei
Als die Demo am Abend schließlich vorbei war, fuhren die meisten italienischen Demonstrant:innen in Bussen und Zügen wieder nach Hause. Doch für die verbliebenen Personen in Genua – also vor allem die Anwesenden aus anderen Ländern – wurde die Situation enorm gefährlich. Ich war zu diesem Zeitpunkt wieder im Carlini-Stadion, wo immer neue Berichte über Polizeigewalt und sogar über Folterungen durch die Polizei eintrafen.
Schließlich kamen immer mehr Hinweise, dass die Polizei das Stadion stürmen würde, dass es nicht mehr sicher sei. Wir mussten die Zelte abbrechen, mussten da raus. Damit begann eine regelrechte Odyssee über mehrere Stunden. Den zeitlichen Ablauf habe ich nicht mehr ganz genau im Kopf, doch nach meiner Erinnerung fuhren wir zuerst zu einem Lokal der Basisgewerkschaft COBAS, um dort zu schlafen. Doch auch dort hieß es bald, es sei nicht sicher. Wir waren buchstäblich auf der Flucht.
Alles voller Blut
Der nächste hastige Aufbruch: Wir fuhren zu einem Gebäude neben einer Schule, es war die Diaz-Schule, die wenig später traurig berühmt wurde. Von einem Polizeiüberfall kurz zuvor war die Rede, als wir ankamen. Doch niemand wusste wirklich, was geschehen war. Eine Person ging rüber und berichtete schockiert, dass alles voller Blut sei.
Heute wissen wir: Die Polizei hat dutzende Menschen, die in der Diaz-Schule geschlafen hatten, in ihren Schlafsäcken buchstäblich zu blutigen Bündeln geprügelt und dann teils schwer verletzt aus dem Gebäude getragen. Die Polizei hat Menschen ihre Rippen, Arme, Beine und Kiefer gebrochen. Die damals 22-jährige Tanja W. ist seither Invalidin. Zahlreiche Menschen, die von der Polizei verhaftet worden waren, wurden dann in der Kaserne Nino Bixio von der Polizei auch weiter brutal gefoltert.
„Uno, due, tre – viva Pinochet“
Die Polizei schlug die Menschen, zwang sie, faschistische Lieder zu singen. Dazu brüllten die Polizisten im Takt „Uno, due, tre – viva Pinochet“ – als Referenz an den chilenischen faschistischen Diktator Augusto Pinochet. Der damalige Vizepremier Gianfranco Fini von der postfaschistischen Alleanza Nazionale war selbst im Lagezentrum der Polizei gewesen – die Botschaft war klar. Die politische Führung stand hinter dem Staatsterror.
Unter den Verhafteten waren auch 25 österreichische Aktivist:innen der „Volxtheaterkarawane“, die mit konstruierten Anklagen drei Wochen in italienischen Gefängnissen festgehalten wurden. Auch sie wurden von der Polizei misshandelt, während die schwarz-blaue Regierung in Österreich keinen Finger für sie rührte. Im Gegenteil: Die damalige ÖVP-Außenministerin Benita Ferrero-Waldner unterstützte die italienischen Behörden.
Apropos italienische Behörden: In den folgenden Jahren wurden zwar zahlreiche führende Polizeibeamte in Italien wegen der Folterungen und Angriffe verurteilt. Doch praktischerweise waren die meisten Anklagepunkte zu diesem Zeitpunkt schon verjährt oder es gab Strafnachlässe. Einige wenige Opfer wurden viele Jahre später von Italien entschädigt.
Mehrere Kläger:innen erhielten 2017, also 16 Jahre nach der Folter, für die moralischen und materiellen Schäden, die sie in Genua erlitten haben und für die Kosten der Gerichtsverfahren jeweils 45.000 Euro. Tanja W. hatte im Jahr davor 175.418 Euro erhalten. Die Verantwortlichen für die schweren Straftaten an der jungen Frau wurden nie zur Rechenschaft gezogen.
Irgendwie sind wir rausgekommen
Meine Freund:innen und ich hatten dagegen wohl schlichtweg Glück, dass wir nicht verhaftet oder überfallen wurden. Gegen fünf Uhr schließlich war klar, dass es in Genua keinen sicheren Ort mehr für uns geben würde. Mitten in der Nacht sind wir völlig übermüdet aus der Stadt geflüchtet – und haben es irgendwie geschafft, rauszukommen.
Ich habe niemals ein faschistisches Regime an der Macht erleben müssen. Doch es war der Geruch des Faschismus, den ich in diesen Tagen in Genua erlebt habe.
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