Die Polizei behauptet, dass dem Polizisten-Tritt eine „Angriffshandlung“ vorausgegangen sei. Im hochauflösenden Video ist davon nichts zu sehen – tatsächlich zu sehen ist ein extrem aggressiver Polizist.
Wenn wir der Darstellung der Wiener Polizei glauben, dann müsste sich der junge Mann am 1. Mai im Prater richtig gefährlich verhalten haben. „Zur Verhinderung einer Angriffshandlung“ hätte der Polizist den Mann mit dem Fuß getreten. Der Mann hätte „eine Glasflasche aus dem Rucksack nehmen“ wollen, heißt es auf Twitter von der Landespolizeidirektion Wien. Das Problem mit dieser Darstellung: Sie entspricht schlichtweg nicht dem Video der Situation, das mir vorliegt. Ein ausführliches Interview, mit Michael, dem Betroffenen, könnt ihr hier lesen.
In sozialen Medien wurde das Video der Amtshandlung zwar bisher schon verbreitet – allerdings in einer sehr schlechten Auflösung, wo nicht alles erkennbar ist. Mir liegt nun das hochaufgelöste Original-Video vor, das die Situation weit besser einschätzbar macht. (In einer früheren Version des Artikels war von einer betroffenen Frau die Rede, das wurde in Absprache mit der betroffenen Person verändert).
Der Fußtritt gg. die am Boden sitzende Person wurde zur Verhinderung einer Angriffshandlung gesetzt und vom Kollegen entsprechend dokumentiert. Offensichtlich wollte die Person eine Glasflasche aus d. Rucksack nehmen. Eine Überprüfung d. Vorfalles wurde bereits eingeleitet. #1Mai
— POLIZEI WIEN (@LPDWien) May 1, 2020
Die Amtshandlung findet am späteren Nachmittag des ersten Mai im Prater statt. Zuvor hatten mehrere hundert RadfahrerInnen an einer Demonstration anlässlich des ersten Mai teilgenommen. Für die Aktion wurde in sozialen Medien geworben, sie war also im Vorhinein bekannt. Auch in meiner Vorab-Bericht zum ersten Mai ist die Fahrrad-Demo aufgeführt.
Die Demonstration war der Behörde offenbar nicht offiziell angezeigt worden – was laut Versammlungsrecht allerdings keineswegs einen zwingenden Grund für eine Auflösung darstellt. Die Polizei hätte genauso die Möglichkeit gehabt, die Durchführung zuzulassen.
Was ist auf dem Video zu sehen?
Vorneweg ein wichtiger Hinweis: Bei der Beschreibung unterscheide ich bewusst zwischen solchen Situationen, die unzweifelhaft zu erkennen sind sowie möglichen Deutungen. Auch Videos sind nicht immer eindeutig, daher muss manches offen bleiben. Das gesamte Video ist etwas mehr als vier Minuten lang, ich beschränke mich hier auf die entscheidende Situation, die rund eineinhalb Minuten dauert.
Der Mann, die später vom Polizisten getreten werden wird, sitzt bereits bei Beginn des Videos völlig ruhig auf dem Boden. Im weiteren Verlauf nenne ich diesen Mann X., den Polizisten, der zutreten wird, nenne ich A. Kurz bevor die gezeigte Videosequenz einsetzt, hatte es bereits eine kurze Interaktion zwischen X. und dem Polizisten A. gegeben, auch da saß X. ruhig auf dem Boden.
Es wirkt, als würde Polizist A. ihn zu irgendetwas auffordern, er beugt sich zu ihm hinunter und spricht vermutlich mit ihm. Er nimmt ihm etwas aus der Hand – eine Karte, einen Ausweis (?) – und geht damit weg (Update: Laut Michael sein Führerschein). Nun setzt der entscheidende Videoausschnitt ein. Seht euch zuerst das Video an, danach analysieren wir, was dort zu sehen ist.
Der betroffene Mann im Video ist aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes unkenntlich gemacht, Polizist A. muss aus rechtlichen Gründen unkenntlich gemacht werden.
Im Hintergrund werfen mehrere Polizisten mutmaßlich eine Frau sehr rüde auf den Boden und fixieren sie. Diese Frau wird auch später im Video immer wieder laut schreien und protestieren, teilweise scheinbar vor Schmerzen. Diese Amtshandlung ist aber nur sehr unklar zu erkennen. Ganz vorne steht fast über die gesamte Zeit ein Polizist.
Verhinderung der Dokumentation
Er versucht offensichtlich, durch seine Präsenz zu verhindern, dass die Amtshandlung gefilmt und damit dokumentiert werden kann. Solche Muster der Polizei sind bekannt, wegen eines ähnlichen Falles, wo ein Polizist mich auch körperlich attackiert hat, gehe ich aktuell gegen die Wiener Polizei vor Gericht.
Von den PolizistInnen wird X. auf dem Video scheinbar nicht weiter beachtet – offenbar ist die Einschätzung, dass von ihm keinerlei Gefahr ausgeht. Auch als unmittelbar hinter ihm die Amtshandlung gegen die Frau eskaliert, bleibt X. ruhig sitzen. Polizist A. kommt nun ebenfalls wieder ins Bild und dreht sich auf einmal zu X. um. Zuvor hatte er seine Kollegen beobachtet, die gerade die Frau zu Boden brachten.
Zu diesem Zeitpunkt kramt X. in seiner Tasche, er hält scheinbar etwas in der Hand. (Update: In einer früheren Version stand hier, dass Michael möglicherweise ein Foto mit dem Handy gemacht haben könnte. Laut seiner Aussage im Interview mit mir hat er das nicht gemacht)
War der Tritt die Rache für ein Foto?
Fast unmittelbar und eher teilnahmslos versetzt Polizist A. ihm auf einmal einen Tritt. X. fällt nach dem Tritt auf den Rücken, Polizist A. reicht das noch nicht – er tritt nach. Es sieht so aus, als würde er nun mit dem Schuh auf den Unterschenkel, Fuß oder Knöchel von X. steigen (Update: Laut Michael sein Unterschenkel). Genau in diesem Moment ist auch ein Schrei auf dem Video zu hören, möglicherweise ein Schmerzensschrei. Auf dem Video ist keinerlei „Angriffshandlung“ von X. zu erkennen.
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Michael Bonvalot
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Der Mann liegt am Boden, richtet sich auch nicht wieder auf. Polizist A. zieht ihm nun eine kleine rote Fahne weg, die er nahe dem Körper hielt und wirft sie zu Boden (dass es vermutlich eine Fahne ist, wird später am Video zu sehen sein – Update: Michael bestätigt das). Danach wird X. von A. offenbar angewiesen, den Inhalt seiner Tasche zu zeigen, er kommt dem nach und zeigt einige Dinge. Eine Glasflasche als Angriffswerkzeug ist nirgends zu sehen (Update: Laut Michael gab es eine Glasflasche, die er dazu benützt hatte, die Fahne im Rücksack zu fixieren.)
Der Polizist schreit X. mehrmals an: „Wir wohnen (?) in Österreich“
Tatsächlich ist X. weiterhin extrem ruhig. Polizist A. hat mutmaßlich die Karte in der Hand, die er X. zuvor abgenommen hatte. Auf einmal beginnt Polizist A. ihn anzuschreien, die ersten Worte sind unverständlich. Dann folgt laut schreiend: „… was die Polizei sagt (?). Wir wohnen (?) in Österreich, okay!“ Im weiteren Video schreit der Polizist ihn noch mehrmals an.
Danach wird X. wieder alleine auf der Wiese gelassen, die PolizistInnen beachten ihn nicht weiter. Auch hier zeigt sich, dass es offenbar keinerlei Einschätzung einer Gefährdung durch die PolizistInnen gibt – was im Fall einer kurz zuvor erfolgten „Angriffshandlung“ mit einer Flasche wohl deutlich anders wäre.
Die Wiener Polizei hat sich bereits am 1. Mai, also unmittelbar nach Erscheinen des ersten Videos, festgelegt. Sie hat den Polizisten verteidigt und seine Darstellung als Fakt behauptet: Zur Erinnerung, die Landespolizeidirektion Wien hatte geschrieben: Der Tritt „wurde zur Verhinderung einer Angriffshandlung gesetzt“.
Das Problem: Die Behauptungen der Polizei sind auf Basis des Videos schlicht nicht nachvollziehbar, das Video zeigt eine gänzlich andere Situation. Diesen Widerspruch wird die Wiener Polizei nun erklären müssen.
Hier könnt ihr mein ausführliches Interview mit Michael lesen.
Ergänzt am 5.5. um 20.55h um Aussagen von Michael in seinem Interview mit mir.
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