Die Stadt Wien will das Zu-Fuß-Gehen offiziell attraktiver machen. Tatsächlich müssen Fußgänger:innen oft regelrecht über die Straße laufen, bevor die Ampel rot wird. Die Stadt sieht kein Problem.

Die ältere Frau hetzt über die Straße. Und scheitert. Als sie auf der anderen Straßenseite ankommt, ist es bereits rot. Angenehm ist das sicher nicht. Denn die Frau geht gerade über den Wiener Gürtel, eine der meistbefahrenen Straßen der Bundeshauptstadt.

Mit bis zu elf Fahrspuren zerteilt der Gürtel an manchen Stellen die Wohnbezirke. Und die Autos warten bereits wie eine Front in mehreren Spuren, gleich werden sie losfahren. War die ältere Frau einfach zu langsam? Nein. Auch die meisten anderen Fußgänger:innen haben genau dasselbe Problem.

Das kann sich in dieser Zeit nicht ausgehen

Denn diese Ampel über den Gürtel bei der Nußdorfer Straße beginnt nach gerade einmal exakt sechs Sekunden Grünphase bereits wieder zu blinken. Nach zehn Sekunden zeigt sie rot, wie ich vor Ort stoppe und mit Video dokumentiere. Die Stadt Wien bestätigt die Messung auf meine Anfrage. In den paar Sekunden bei normalem Tempo über die Straße zu kommen? Wie sich zeigt, scheitern daran fast alle Fußgänger:innen.

Selbstversuch: Selbst in schnellem Gehtempo geht es sich nicht aus, bevor die Ampel rot wird.

Dabei führt gerade die Kreuzung bei der Nußdorfer Straße für Fußgänger:innen zu einem wichtigen Umsteigeknoten: Hier ist nicht nur eine Station der U6, auch die Straßenbahnlinien 37 und 38 sowie die Busse 35A und 37A fahren dort ab.

Während es für Fußgänger:innern schnell gehen muss, gibt es für Autos genug Zeit: Autofahrer:innen, die den Gürtel entlang fahren oder aus Richtung Döbling einbiegen, haben insgesamt rund eine Minute Zeit. Also sechsmal so lang wie die Fußgänger:innen. Und diese Ampelschaltung ist in Wien kein Einzelfall. Ganz im Gegenteil.

Das Problem betrifft zahlreiche Ampeln

Eine Vielzahl von Ampeln in Wien ist für Zufußgehende und Radfahrer:innen so geschalten, dass es kaum möglich ist, bei Grün über die Straße zu kommen. Das Problem kennen vermutlich alle Menschen, die in Wien öfter ohne Auto unterwegs sind. Betroffen sind dabei vor allem die großen Durchzugstraßen, die die Stadt ohnehin bereits jetzt zerschneiden.

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Ein Beispiel ist die Triester Straße – eine vielspurige Ausfallstraße im Süden der Stadt, die Richtung Niederösterreich führt. Gleich am Anfang, knapp nach dem Umsteigeknoten am Matzleinsdorferplatz, hält eine Ampel den Autoverkehr zumindest kurzfristig auf. Allein stadtauswärts verlaufen an dieser Stelle fünf Autospuren.

Die Kinder sind noch mitten auf der Straße

Die Ampel für Menschen, die zu Fuß unterwegs sind? Beginnt bereits nach 12 Sekunden Grünphase wieder zu blinken, nach 16 Sekunden ist sie rot. Zu diesem Zeitpunkt sind meist noch etliche Menschen mitten auf der Straße, wie ich vor Ort beobachte und dokumentiere. Darunter immer wieder auch Kinder.

Die Autos? Können über eine Minute fahren. Ein identes Bild weiter stadtauswärts auf der Triester Straße, an der Kreuzung zur Altmannsdorfer Straße in Wien-Liesing. Und dieses Problem zeigt sich sogar auf zentralen Verbindungen für den Fußgänger:innen-Verkehr.

Stau für Fußgänger:innen beim Wiener Westbahnhof

Etwa bei der Ampel, die beim Westbahnhof stadtauswärts über den Gürtel führt. Es ist einer der wichtigsten Verkehrsknoten Wiens: Hier trifft der zweitwichtigste Bahnhof der Stadt samt Einkaufszentrum auf zwei U-Bahn Linien und sechs Straßenbahnlinien. Direkt daneben beginnt mit der Mariahilfer Straße die größte Einkaufsstraße des Landes. Entsprechend viele Menschen sind hier unterwegs.

Die grüne Ampel für Fußgängerinnen beginnt bereits nach 12 Sekunden wieder zu blinken. Nach 16 Sekunden ist sie rot. Während meines Lokalaugenscheins sind zu diesem Zeitpunkt meist noch zahlreiche Menschen auf der Straße. Darunter Eltern mit Kinderwagen und kleine Kinder. Für Autos gibt es dagegen mehr als eine Minute. Wenn der Verkehr stärker wird, bekommen Autos übrigens sogar besonders lange grün.

Denn zahlreiche Ampeln in Wien werden laut ORF zusätzlich durch rund 2000 Sonden im Boden gesteuert: Wenn mehr Autos unterwegs sind, bekommen sie längere Grünphasen. So wird das Autofahren nochmals belohnt. Und im Gegenzug das Zufußgehen oder Radfahren bewusst unattraktiver gemacht.

Mindestens sieben Minuten Wartezeit an der „Bettelampel“

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Besonders fußgänger:innen- und radler:innenfeindlich wird es dann an sogenannten Bettelampeln. Das sind Ampeln, wo ein kleiner Kasten an den Ampelanlagen angebracht ist. Die Stadt Wien nennt sie „Bedarfsampeln“. Grün wird es dort überhaupt nur, wenn jemand drückt. Wer das nicht checkt, wartet ewig. Was das konkret bedeuten kann, zeigt sich beispielsweise an der Adalbert-Stifter-Straße.

Es ist eine zentrale Durchfahrtstraße in den Norden der Stadt. Ausgebaut wie eine Schnellstraße führt sie mitten durch die Wohngebiete des Arbeiter:innenbezirks Brigittenau. Bei der ersten Grünphase, die ich beobachte, überquert ein Essenslieferant auf dem Roller die Straße. Danach rollen die Autos. Und rollen. Und rollen. Für gute fünf Minuten. Schließlich drückt ein Mann den Knopf der Bettelampel. Es piepst, die Automatik hat das also registriert. Was danach passiert? Erstmals ziemlich lange gar nichts.

Sogar der Lieferant ist wieder da

Nach über einer Minute drückt der Mann erneut. Wieder piepst es. Wieder bleibt es rot. Inzwischen sind bereits über zwei Minuten vergangen. Eine weitere Person drückt den Knopf. Wieder piepst es. Nochmals vergeht über eine halbe Minute. Dann wird es endlich grün.

Der Lieferant ist wieder da. Bild: Michael Bonvalot

Inzwischen ist sogar bereits der Lieferant wieder da – er hat es offenbar in der Zwischenzeit geschafft, seine Lieferung abzuholen oder anzuliefern. Doch grün bleibt es wieder nur für einige Sekunden – als die letzten Menschen die Straße passieren, ist es bereits wieder rot. Und dann rollen wieder die Autos.

Die Stadt Wien sieht kein Problem

Die Stadt Wien sieht in dieser Aufteilung dagegen offenbar kein Problem. Denn es wäre ohnehin „nicht notwendig“, innerhalb der Grünphase „die Fahrbahn komplett zu queren“, so Natasa Vukovic, Sprecherin von „Wien leuchtet“. Sie hat meine Anfrage an das Büro der zuständigen Stadträtin Ulli Sima (SPÖ) beantwortet. Die „Räumzeiten“ wären laut Stadt Wien so bemessen, dass „auch in ihrer Mobilität eingeschränkte Personen die Fahrbahn zu Ende passieren können, bevor der Querverkehr grünes Licht erhält“.

Die von mir zu Beginn des Artikels beschriebene Kreuzung von Gürtel und Nußdorfer Straße etwa wäre zwar nach 10 Sekunden wieder rot. Doch danach gäbe es laut Stadt Wien noch eine „Räumzeit“ von zwölf Sekunden bei roter Ampel. Danach würden die Autos wieder grün bekommen. Der offensichtliche Schönheitsfehler: Dass es eine solche offizielle „Räumzeit“ überhaupt gibt und wie lange sie dauert, wissen wohl nur die wenigsten Menschen.

Was die Fußgänger:innen dagegen faktisch sehen: Eine rote Ampel, während sie noch mitten auf der Straße gehen. Und Autos, die in mehreren Spuren stehen und in Kürze losfahren werden. Dass das enormen Stress bedeutet, ist offensichtlich. Wien-Leuchtet-Sprecherin Vukovic dagegen sagt: Diese Ampel würde die „Gehgeschwindigkeit von älteren Personen und Kindern“ berücksichtigen, womit „die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer*innen gegeben“ sei.

Das ist gefährlich und macht Stress

Doch tatsächlich ist eine solche Verkehrssituation enorm problematisch: Bei vielen Kreuzungen gibt es auch noch Auto-Querverkehr, der trotz Grün für Fußgänger:innen von der Seite einbiegt. Das ist auch an der Kreuzung Gürtel und Nußdorfer Straße der Fall. Die einbiegenden Autofahrer:innen? Sehen in der „Räumzeit“ eine grüne Ampel für sich selbst und eine rote Ampel für Fußgänger:innen. Dass noch Menschen in dieser „Räumzeit“ die Straße queren, sehen sie – hoffentlich – noch rechtzeitig.

Wild gehupt wird immer wieder trotzdem. Und das ist sogar nachvollziehbar: Die Autofahrer:innen glauben ja, dass da jemand trotz Rot gefährlich über den Gürtel geht. Die Folge: Noch mehr Stress für Fußgänger:innen. Nur schnell weg.

Eine Stadt für Autos

Für Fußgänger:innen bedeutet die aktuelle Situation auf vielen Straßen in Wien real: Wer zu Beginn der Grünphase mit der Querung der Straße beginnt, kann sie nicht überqueren, bevor die grüne Ampel blinkt. Und in vielen Fällen ist es sogar bereits rot. Auch wenn die Person aus der ersten Reihe startet und es keinen Querverkehr gibt.

Es ist eine Situation, die Autofahrer:innen niemals erleben werden. Sie sind nicht nur viel schneller unterwegs, sondern bekommen auch zusätzlich meist noch viel mehr Zeit. Doch Ampelschaltungen sind nicht naturgegeben, das sind bewusste, politische Entscheidungen. Laut Stadt Wien sei etwa die Kreuzung an der Nußdorfer Straße auf „die hohe Verkehrsfrequenz in diesem Bereich abgestimmt“. Im Klartext: Der Autoverkehr wird einfach als gegeben hingenommen.

Auf meine Frage, wie sich die aktuellen Ampelschaltungen mit den offiziellen Wiener Plänen zum Ausbau des Fußgänger:innenverkehrs vertragen würden, antwortet die Stadt nicht direkt. Stattdessen wird auf einzelne Umbaumaßnahmen mit „Verkehrsberuhigungen oder Gehsteigvorziehungen“ verwiesen.

Was ist mit den offiziellen Plänen der Stadt Wien?

Das ist auch deshalb verwunderlich, weil die Stadt offiziell den Anteil des Fußgänger:innen-Verkehrs deutlich anheben will. „Wir Wiener*innen sind Fußgänger*innen. Die meisten ihrer Wege legen die Wiener*innen zu Fuß zurück“, sagt etwa Mobilitätsstadträtin Sima im Dezember 2023 in einer Aussendung der Stadt. Ein Drittel aller täglichen Wege erledigen die Wienerinnen laut der Stadt zu Fuß. Die Stadt Wien hat jüngst sogar einen eigenen „Masterplan Gehen“ aufgelegt. Das Gehen solle damit viel attraktiver werden.

Für Kinder gibt es dazu die eigene Website „Die Stadt und Du“. Werbeslogan: „Entdecke Wien auf Schritt und Tritt“. Kinder und Erwachsene sollten mehr zu Fuß gehen. Das würde Spaß machen, gesund sein und das Klima schützen. Und genauso ist es ja auch. Doch warum macht es die Stadt Wien dann so schwer?

Ergänzt um Informationen über Sonden bei Wiener Ampeln.

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