Was wirklich beim Wiener Derby passiert ist. Wie die Logik der Ultra-Fans dafür verantwortlich ist. Und welchen Weg es aus der Eskalation gibt.

Nach den Auseinandersetzungen am großen Wiener Derby herrscht Aufruhr in den Medien und in den Fanszenen. Videos werden veröffentlicht, analysiert und oft buchstäblich Sekunde für Sekunde seziert. Das Problem: Viele Medienberichte zeigen, dass deren Autor:innen kaum eine Ahnung davon haben, wie Fanszenen tatsächlich funktionieren. Und deshalb verrennen sie sich.

Ich werde an dieser Stelle nicht beginnen, die zahlreich vorhandenen Videos einzeln zu analysieren. Der Nutzen ist begrenzt – und es ist ohnehin offensichtlich, dass beide Fanszenen für die Auseinandersetzungen ihren Teil der Verantwortung tragen.

Die Eskalation ist keine Überraschung

Auch das Verhalten von Polizei und Ordner:innendienst sei an dieser Stelle nur kurz abgehandelt: Eindeutig ist, dass bei diesem Einsatz enorm viel schief ging. Auch dazu gibt es inzwischen zahllose Videos. Absicht oder Unvermögen? Da ist wohl das Prinzip “Hanlons Rasiermesser” eine gute Antwort: “Geh nicht von Böswilligkeit aus, wenn Dummheit genügt.” Belassen wir es also an dieser Stelle schon wieder mit den Ordnungskräften. Gehen wir stattdessen einen Schritt weiter!

Denn tatsächlich ist es keineswegs überraschend, dass es am Ende des 343. großen Wiener Derbys heftig gekracht hat. Es wäre eher überraschend gewesen, wenn es nicht gekracht hätte. Sehen wir uns an, wie (Ultra-)Fanszenen funktionieren, welcher Logik sie folgen – und was das mit dem Wiener Derby zu tun hat.

Es kriselt schon länger

Die Rivalität zwischen Grün und Violett in der österreichischen Hauptstadt ist legendär. Kein Wunder, kein Derby in Kontinentaleuropa wurde öfter gespielt. Rapid wurde 1899 gegründet, der Vorläufer der Austria, die Vienna Cricketer, sogar bereits 1894.

Ein letzter trauriger Höhepunkt in dieser Rivalität: Nach dem Derby im Februar 2024 – dem ersten Rapid-Sieg im eigenen Stadion nach mehreren sieglosen Jahren – stimmen Co-Trainer Stefan Kulovits sowie Kapitän Guido Burgstaller und Ex-Star-Spieler Marco Grüll homophobe Gesänge gegen den Erzrivalen an. Und auch zwischen den Fanlagern kracht es regelmäßig.

Ketten und Zuckerbäcker

Heftige Auseinandersetzungen gab es allerdings auch schon früher. Das zeigt etwa ein Video von jungen Rapid-Fans aus den späten 1970er Jahren. Die Rapid-Fans sind damals unter anderem mit Ketten bewaffnet, wie sie selbst zugeben. Auch Messer sind damals sehr beliebt. Dazu kommen die sogenannten Nunchakos, eine gefährliche Schlagwaffe.

Angst haben diese Rapid-Fans schon damals vor den “Zuckerbäckern”, wie sie erzählen. Es ist eine violette Fangruppe, die damals für ihre Schlagkraft bekannt ist. Das seien “solche Riegel von der Austria”, klagt ein junger Rapid-Fan, der ansonsten offenbar selbst gerne “rauft”.

Ob es also aktuell tatsächlich öfter kracht oder ob es im Handy-Zeitalter einfach nur verstärkt sichtbar wird? Dazu fehlen die Zahlen. Klar aber ist: Auch in den letzten Jahren geht es zwischen den Fans von Austria und Rapid regelmäßig rund. Doch zunächst gibt es beim jüngsten Derby am 22. September eigentlich keine besonderen Vorkommnisse.

Gegenseitige Beschimpfungen

Beide Fanlager decken sich von Beginn an mit Beschimpfungen ein – viele davon widerlich sexistisch und homophob. Austria-Fans beschimpfen aus dem Auswärts-Sektor die Rapid-Fans in den nebenliegenden Sektoren, die Rapid-Fans aus den Nebensektoren beschimpfen den violetten Auswärtssektor. Es ist alles weitgehend ritualisiert.

Direkt neben dem Auswärts-Sektor, dem “Away”, sind im Rapid-Stadion zwei Tribünen: Ost und Nord. Das wird noch wichtig werden, weil die Osttribüne (offiziell Allianz Tribüne) später in Medien oft als “Familientribüne” bezeichnet wird. Tatsächlich trifft der Familien-Charakter zwar auf die Nord zu.

Die Ost/Allianz dagegen ist einfach die große Sitzplatztribüne im Stadion der Hütteldorfer. Dort sitzen tatsächlich Familien – darunter oft auch Fans der Gastmannschaft, die (etwa mit Kindern) nicht in den Auswärtssektor wollen. Aber auf dieser Tribüne sitzen genauso Hardcore-Fans. Etwa jene, die schon etwas älter geworden sind. Oder Fans, die bei großen Spielen keine Karte mehr für die Fantribüne “West” bekommen haben.

Und dem Vernehmen nach sitzen auf der Ost auch immer wieder Personen, die eigentlich Hausverbot in Hütteldorf hätten – und damit Schwierigkeiten, den Eingang zum “Block West” zu passieren. Dazu kommt: Es ist sehr einfach, von der West auf die Ost zu kommen. Und damit direkt vor den Auswärtssektor.

Die Böller werden zum Auslöser

Im Lauf des Spiels wird die Empörung unter den Fans der Hütteldorfer dann immer größer. Denn aus dem Auswärtssektor werden mehrmals Böller gezündet. Ob diese Böller Richtung Spielfeld geworfen werden, in die Luft oder in die Nebensektoren? Wer dafür verantwortlich ist? Dazu gibt es unterschiedliche Aussagen. Doch entscheidend ist: Sie werden gezündet. Und das ist ein absolutes No-Go.

Denn Böller sind enorm laute Knallkörper, die potenziell schwerste Verletzungen und langfristige Folgen auslösen können. “Wie eine Bombe” hätte sich das angefühlt, sagt ein Austria-Fan. Deshalb sind diese Böller auch völlig zu Recht in großen Teilen der Fanszene geächtet. Eigentlich auch schon seit Jahren explizit bei der Austria. Dennoch kracht es.

Austria: Die eigene Verantwortung wird betont

Das wird nach dem Spiel auch die aktive Fanszene der Austria in einer Stellungnahme zum Thema machen. Dort heißt es: “Fest steht, das Werfen von Pyrotechnik diverser Art im Stadion ist auch weiterhin ein klares No-Go!” Wie viel diese Stellungnahme wert ist und vor allem: Wie effektiv die aktive Fanszene diese Position auch durchsetzen kann? Das wird die Zukunft zeigen.

Doch es ist insgesamt ein sehr reflektiertes Statement, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass nicht auf “die anderen” gezeigt wird. Stattdessen werden die eigenen Fehler und Probleme angesprochen. An einer Stelle allerdings müsste eindeutig nachgebessert werden: Da heißt es, “Familien mit Kindern und Frauen” dürften “niemals das Ziel einer Gefährdung werden”. Doch selbstverständlich dürfen auch unbeteiligte Männer niemals gefährdet werden.

Auch beim Spiel gegen Sturm Graz wenige Tage später wird der Vorsänger der Austria die eigene Verantwortung nochmals in einer Ansprache zu den Fans betonen. Seitens der aktiven Fanszene von Rapid gibt es keine Stellungnahme.

Das “eigene” Stadion verteidigen

Doch für das Wiener Derby entscheidend ist: Böller zünden – und möglicherweise sogar in andere Sektoren werfen – das kann sich in der Fußball-Logik keine Fanszene gefallen lassen. Denn in dieser Logik geht es darum, das “eigene” Stadion zu verteidigen. Wer das nicht tut, verliert an Reputation. Und lädt künftig auch andere Fangruppen zu Attacken ein. Diese Logik muss niemand richtig finden. Doch alle Beteiligten wissen es.

Im Nachgang wurde von manchen Rapid-Fans behauptet, dass Teile der Szene auf den Rasen gestürmt wären, um “die Familien” zu schützen. Es wirkt allerdings eher wie eine Schutzbehauptung. Vielmehr ging es wohl um die Reputation der Szene. Auf die harte Tour mussten das auch schon mal Fans von Rapid erfahren.

Rapid musste es in Saloniki erfahren

Bei einem Spiel gegen PAOK in Thessaloniki flogen 2012 aus dem Rapid-Block Bengalen in die Nebensektoren. Die Reaktion: Hunderte PAOK-Fans stürmten den Rasen des Toumba-Stadions in der zweitgrößten Stadt Griechenlands – und hätten fast auch den Rapid-Sektor gestürmt.

Eine enorm gefährliche Situation. Doch in der Szene-Logik hatte die PAOK-Szene damit klargemacht, dass sie bereit war, ihr “eigenes” Terrain zu verteidigen. Dass sie also “Herr im eigenen Stadion” war. Und das ist auch eine zentrale Erklärung für die Ereignisse rund um das aktuelle Wiener Derby.

Die Rolle der “internationalen Gäste”

Die Massivität der Auseinandersetzungen in Thessaloniki ist ebenfalls nur mit einem tieferen Einblick in die Fanszene verständlich: Die Szene von Rapid ist seit vielen Jahren eng mit Panathinaikos Athen (PAO) befreundet – mit höchster Wahrscheinlichkeit waren deshalb auch zahlreiche PAO-Fans im “grünen” Sektor in Thessaloniki. Doch durch die Freundschaft von PAO und Rapid sind gleichzeitig Rapid und PAOK Thessaloniki quasi automatisch verfeindet.

Im Gegenzug spielen internationale Gäste auch bei Wiener Derbys oft eine entscheidende Rolle. Das zeigte sich etwa im Mai 2011. Da stürmten Rapid-Fans den Rasen in Hütteldorf, nachdem ihr Team bereits nach 26 Minuten gegen die Austria 0:2 im Rückstand lag.

Action im Ausland

Einer der ersten grünen Platzstürmer in Hütteldorf: Ein PAO-Anhänger, wie am tätowierten Vereinswappen auf seiner linken Brust gut erkennbar war. Der Boulevard machte den Fan aus Griechenland danach zum “Hass-Griechen”. Reichlich übertrieben. Doch die Rolle der internationalen Gäste bei Auseinandersetzungen kann tatsächlich kaum überschätzt werden: Sie fahren hunderte oder tausende Kilometer zu einem Spiel – oft mit der Erwartungshaltung auf “Action”.

Dazu wird darauf spekuliert, bei Auseinandersetzungen im Ausland von der Polizei nicht so leicht erkannt zu werden. Auch beim aktuellen Derby gehen Gerüchte um, dass die Böller im violetten Sektor teils von “Freunden aus dem Ausland” gezündet worden wären. Und es wäre nicht verwunderlich, wenn auch unter den grünen und violetten Rasenstürmern internationale Gäste gewesen wären.

Der internationale Ruf ist enorm wichtig

Und auch auf einer anderen Ebene spielt das Ausland eine zentrale Rolle in vielen Überlegungen: Denn für große Fanszenen ist der internationale Ruf enorm wichtig. Was für einen guten Ruf sorgt: Eine große und lautstarke Kurve, spektakuläre Choreografien, viele rauchende Bengalen – und Körperkraft. Denn Anhänger:innen der Ultra-Kultur müssen sich “stellen”.

Das bedeutet: Sie müssen sich, die Szene, ihre “Szene-Wäsch” (die von den Fanclubs produzierte Kleidung) sowie das Eigentum des Fanclubs verteidigen. Unter allen Umständen. Wer sich nicht stellt, verliert enorm an Reputation. Das geht soweit, dass Ultra-Fanclubs sich sogar auflösen müssen, wenn sie eines der zentralen Banner mit dem Gruppennamen verlieren

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Das sind die Zaunfahnen der jeweiligen Gruppe, die bei den Heim- oder Auswärtsspielen im Stadion hängen. In Österreich werden sie “Fetzn” genannt. Manche Ultra-Gruppen versuchen zwar, irgendwelche Ausreden zu finden, nachdem sie ihren Fetzn verloren haben. Andere nehmen den Kodex aber tatsächlich ernst und lösen nach einem Verlust den gesamten Fanclub auf.

Ultra oder britisch?

Die “Mentalità” dieser Ultras ist aus Italien nach Österreich gekommen. Dort hat sich die Fan-Bewegung in den 1960er Jahren etabliert – viele Versatzstücke wurden direkt von politischen Demonstrationen übernommen. Politisch sind die Ultras in Italien mal links, mal rechts, mal offiziell unpolitisch. In Österreich dominiert das unpolitische Element, in Deutschland gibt es auch viele explizit linke Ultra-Gruppen.

Es ist eine Fankultur mit einigen Besonderheiten. Ultra, das bedeutet: Trommeln, Fahnen, Bengalen, Choreografien, ein/e Vorsänger:in mit Mikro oder Lautsprecheranlage. Und 90 Minuten lautstarker Dauergesang zur Unterstützung des eigenen Teams. Im Gegensatz dazu gibt es auch den “britischen Support”.

Da sind Vorsänger:innen und Stimmungselemente verpönt. Wer mag, stimmt etwas an, wer mag, ruft mit. Wer keine Lust hat, der lässt es.

Wer nicht mitsingt, wird sanktioniert

Eine klassische “britische Kurve” ist etwa der Wiener Sportclub. In der links dominierten Fanszene des WSC gibt es dazu das Motto: “Breakfast continental, support british”. Die ebenfalls links dominierte Kurve der Vienna dagegen ist ultra-orientiert. Die beiden großen Wiener Vereine sind hier ebenfalls (leicht) unterschiedlich aufgestellt.

Die Kurve von Rapid ist eine eindeutige Ultra-Kurve. Die Ultras Rapid wurden bereits 1988 gegründet, die “UR ’88” sind damit die älteste Ultra-Gruppe in Österreich. Wer im Zentrum des “Block West” nicht mitsingt, wird mit Sanktionen rechnen müssen. Bis hin zu körperlichen Folgen. Die violette Kurve dagegen ist zwar ebenfalls ultra-dominiert.

Ultras und Hooligans

Auch KAI, die Hauptgruppe der Austria, ist eine UItra-Gruppe. KAI, das steht für Kampfastllln Inzersdorf, einen Bezirksteil von Wien-Liesing. Gegründet im Jahr 2000, somit: KAI 2000. Doch bei den Veilchen gab und gibt es traditionell auch britische Elemente. Unter den “britischen” Supportern der Violetten sind viele Antifaschist:innen. Doch auch die rechts dominierte Hooligan-Kultur kommt aus Großbritannien.

Fein säuberlich zu trennen sind “Ultra” oder “britisch” also gerade in der Gewaltfrage keineswegs. Verstärkt wird deshalb in jüngerer Zeit auch der Begriff “Hooltra” gebraucht, also die Vermischung von Hooligan und Ultra. Wenn es somit darum geht, sich “zu stellen”, gibt es keine Unterschiede zwischen den Fanszenen in Violett und Grün. Und auch das ist für ein tieferes Verständnis der Auseinandersetzungen beim Derby wichtig.

Provokationen als Ritual

Denn da schenken sich Fans beider Lager nichts. Dabei geht es weniger um die verbalen Beschimpfungen über das gesamte Stadion hinweg, also von Kurve zu Kurve. Schon die klingen für Außenstehende wirklich übel. Etwa mit “Tod und Hass” oder dem Wunsch, dass die Gegenseite “verrecken” solle (das sollte im Übrigen schon allein wegen der Nazi-Assoziation endgültig beendet werden).

Doch weit prolematischer: Direkt neben dem Auswärtssektor stehen oder sitzen auch Heimfans. Auch bei den Wiener Derbys, egal ob in Hütteldorf in Favoriten. Und einige der jeweiligen Heimfans benehmen sich, genauso wie einige Auswärtsfans, nicht immer endschlau. Da werden dann gerne mal 90 Minuten lang erhobene Mittelfinger gezeigt, es wird hinüber geschimpft oder es werden Halsabschneidegesten gemacht. Dazu fliegen auch gerne mal die Bierbecher hin und her.

Und irgendwann klettern dann die ersten Auswärtsfans über den Zaun, der die Sektoren trennt und attackieren die Provokateure. In der Fußball-Szene heißt das: “Play stupid games, win stupid prices” – spiel dumme Spiele, gewinn dumme Preise. Genau das ist wohl auch beim Wiener Derby nach Spielende passiert.

Und dann kracht es

Videos zeigen, wie eine Handvoll Austria-Fans die Absperrung zur Nord überwindet. Und das ist tatsächlich die Familientribüne von Rapid – wenn dort Vermummte anstürmen, löst es bei vielen Menschen zu Recht Angst aus. Kurz: Es ist inakzeptabel.

Gleichzeitig zeigen Videos, dass auch auf der Nord Personen aus beiden Fan-Lagern die Auseinandersetzung suchen. Ein Ticket auf einer bestimmten Tribüne sagt eben noch wenig über die eigene Motivation aus.

Doch die Auseinandersetzung auf der Nord ist nach den Böllern ein weiterer willkommener Vorwand für eine größere Auseinandersetzung. Und so laufen knapp nach Spielende die ersten Rapid-Fans von der Westtribüne Richtung Austria-Sektor. Viele Grüne laufen dabei über den Rasen, wie auch der ORF in der Live-Übertragung zeigt.

Die Bengalen fliegen

Die Videos, die jetzt kursieren, sind eindrücklich: Kurz nach Spielende wird aus dem Austria-Sektor ein Leuchtkörper in die Luft geschossen, ein Knall, roter Schein verglüht. Unmittelbar danach fliegt ein grüner Bengalo von der Ost/Allianz mitten in den Austria-Sektor. Er wird zurück Richtung Ost/Allianz geworfen. Weitere Böller knallen, mutmaßlich kommen sie erneut aus dem Austria-Sektor.

Rund zwei Minuten später sind auf Videos bereits die ersten Rapid-Fans zu sehen, die von der West Richtung Austria-Sektor laufen. Als sie ankommen, fliegen die Bengalen hin und her. Austrianer kommen den Rapidlern auf dem Rasen entgegen, es gibt heftige Schlägereien. Unbeteiligt ist da niemand: Alle Beteiligten haben Bock auf diese Schlägerei.

Besonders auffällig ist allerdings einer der Beteiligten: Es ist der offizielle Fanbeauftragte von Rapid. Er sticht mit einer Cornerfahne auf einen Austrianer ein, der bereits wehrlos am Boden liegt. Rapid stellt den Mitarbeiter zwar danach dienstfrei. Dennoch muss die Frage gestellt werden, welche Mentalität er wohl in der Vergangenheit gefördert hatte. Kaum mediale Aufmerksamkeit bekommen dagegen die Auseinandersetzungen auf der Osttribüne. Obwohl sie wohl mindestens ebenso bedeutend sind. Auch für die Zukunft.

Die “Motivierten” finden sich

Denn auch auf der Ost/Allianz kracht es. Einer der Auslöser: Ein sehr bekannter Akteur der Rapid-Szene stellt sich kurz nach Spielende direkt vor den Austria-Sektor. Dort provoziert der (ehemalige) Vorsänger der Grünen die violetten Fans. Schnell kommen weitere Rapid-Fans dazu, offensichtlich sind sie von der West durch das Stadioninnere Richtung Auswärts-Sektor gelaufen.

Sie sind “motiviert” – so heißen in der Szene jene Fans, die aktiv nach Auseinandersetzungen suchen. Und auf der Ost/Allianz finden sich dann die Motivierten beider Seiten. Familien sind das eher keine.

Austria-Fans kommen auch hier über den Zaun, Fäuste fliegen, es scheppert gewaltig. Auch der grüne Vorsänger bekommt einiges ab. Die Rapid-Fans ziehen sich laufend zurück – ob vor den Austria-Fans oder vor dem Pfefferspray der anrückenden Polizei, muss offen bleiben. In jedem Fall: Eine nachvollziehbare Flucht. Doch in der Szene wird so etwas nicht gern gesehen.

Eine beliebte internationale Hooligan-Seite schreibt nach dem Spiel: “Capo der Ultras von Rapid kam, um die Auswärtsfans beim Wiener Derby zu beschimpfen, und rennt, nachdem er verprügelt wurde”. In dieser Szene-Logik hätte er sich wohl weiter “stellen” müssen. Auch wenn er dadurch schwer verletzt worden wäre. Ja, das ist ziemlich irre. Doch so ist der Codex.

“Aktive Raufhandlungen”

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Auch auf violetter Seite gibt es Verletzte: Einige Austrianer, die gleich zu Beginn aktiv den Konflikt am Rasen gesucht hatten, werden heftig zusammengeschlagen. Sie werden danach von einer größeren violetten Gruppe “herausgehauen”. Das lässt sich zwischen den Zeilen übrigens auch aus dem offiziellen Statement der Austria nach dem Derby herauslesen.

Hausverbote werden für alle angekündigt, “die den Auswärtsblock verlassen und aktiv in Raufhandlungen auf dem Rasen verwickelt waren”, so der Verein. Das Wort “aktiv” lässt wohl bewusst einen gewissen Interpretationsspielraum. Und im Hintergrund der Auseinandersetzungen am Derby könnten auch Konflikte innerhalb der jeweiligen Fanszene eine Rolle spielen

Umbruch in der Austria-Szene

Bei der Austria ist die neue Hauptgruppe KAI 2000 noch nicht lange am Ruder. Sie hatte erst im vergangenen Jahr die alten rechtsdominierten Fanatics abgelöst. Die hatten sich im Ende März 2023 aufgelöst, nachdem Rapid-Fans einen Teil der geplanten Choreographie der Austria-Szene gestohlen hatten. Auch das ist ein Ultra-Ritual: Gegnerische Utensilien “ziehen”.

Es muss ebenfalls niemand verstehen, doch es gehört zur Tradition. So etwas gibt es in Österreich ja auch außerhalb des Fußballs: Vergleichbar ist es mit dem Stehlen von Maibäumen aus dem Nachbardorf.

Doch aus Hooligan/Ultra-Sicht hatten es die Jugend-Mitglieder der Fanatics den angreifenden Rapidlern zu leicht gemacht: Sie waren vor den zahlenmäßig deutlich überlegenen Angreifern geflüchtet. Absolut verständlich. Doch damit hatten sie sich in der Szene-Logik nicht ausreichend gestellt, nicht genug “kassiert”.

Es wird aufgeräumt

Vermutlich war der Diebstahl der “Choreo” allerdings gar nicht der Grund für die Auflösung der “Viola Fanatics”, sondern eher ein willkommener Anlass. Denn viele Austrianer:innen waren den Rapidlern ohnehin dankbar. In diesen Tagen bekam ich ziemlich viele Nachrichten von Austria-Fans mit dem Hashtag #DankeRapid. Alles über die Auflösung der Fanatics habe ich hier für euch aufgeschrieben.

Die KAI haben als neue Hauptgruppe auch politisch aufgeräumt: Die Freundschaften zu den Nazi-Kurven von FC Brno und Slovan Bratislava wurden beendet. Die Freundschaft mit Slovan sogar äußerst handfest. Alles über die Schlägereien zwischen Austria und Slovan habe ich hier für euch aufgeschrieben.

Und statt der früheren Freundschaft zur rechten Kurve KOB von Paris St. Germain gibt es jetzt Kontakte zu den linken Ultras von Olympique Marseille (was die Rapid-Szene am Derby mit einem eigenen “Fetzn” zum Thema machte). Doch nicht alle in der Austria-Szene sind mit dem neuen Kurs der KAI glücklich. Auch das könnte ein Hintergrund der Eskalation am Derby sein.

Eine neue Rapid-Generation

Und auch bei Rapid gibt es intern heftige Konflikte. Auf der einen Seite steht vor allem die traditionelle Hauptgruppe, Ultras Rapid. Auf der anderen Seite sind die ebenfalls ultra-orientierten Gruppen Lords und Lions, zweitere im Kern aus Oberösterreich. Im alten Rapid-Stadion standen die Lords noch allein auf der früheren Osttribüne und kontrollierten dort das Geschehen.

Doch nach dem Neubau des Hanappi-Stadions wechselten die Lords ab Sommer 2016 zu den UR auf die West. Das aber läuft schon seit einiger Zeit nicht rund: Erst im Mai gab es sogar im Stadion eine körperliche Auseinandersetzung. Doch Zeiten, wo die Machtfrage gestellt wird, sind gleichzeitig auch Zeiten, wo sich die jeweiligen Gruppen szeneintern profilieren müssen.

Unter anderem mit Attacken auf den Erzrivalen. Auch der Diebstahl der Fanatics-Choreo ging wohl auf das Konto von Lords und Lions. Auch das: Szene-Logik. Niemand muss sie teilen. Doch sie sollte zumindest verstanden werden.

Haben die Vereine eine Lösung?

Beide Vereine sprechen nach den Auseinandersetzungen am Derby von spürbaren Sanktionen. Sowohl Austria wie Rapid kündigen Hausverbote und die Beantragung bundesweiter Stadionverbote an. Zudem werden die kommenden vier Derby ohne Auswärtsfans ausgetragen. Beide Vereine wollen dazu gemeinsam mit der Bundesliga eine Arbeitsgruppe einrichten, um zu überlegen, wie kommende Derbys sicherer gestaltet werden können.

Auffällig zeigt sich bei einer Pressekonferenz nach dem Spiel allerdings Rapid-Boss Alexander Wrabetz. Er behauptete “Wir haben kein Fan-Problem, wir haben auch kein Sicherheitsproblem”. In Anbetracht der Situation eine zumindest gewagte These. Und Wrabetz sagt auch: “Bestimmte Dinge löst man im (Fan)Block.” In der Situation ist das wohl eher eine Verteidigung der Rapid-Szene. Doch der Rapid-Präsident hat da gleichzeitig einen tatsächlich relevanten Punkt.

Lösen Repression und englische Verhältnisse die Lage?

Denn eine tatsächliche Lösung wird es nur mit den Fanszenen geben. Es wird immer möglich sein, Böller und Bengalen in ein Stadion zu bringen. Die aktuelle Alternative wären intime Körperdurchsuchungen der Auswärts-Fans. Offensichtlich völlig indiskutabel. Und im eigenen Stadion gibt es ohnehin für die meisten Fan-Szenen die Möglichkeit, Material entsprechend vorzubereiten.

Und wenn es dann kracht? Nehmen wir die Böller am Derby als anschauliches Beispiel: Die Person, die den Böller zündet, wird vermutlich vermummt sein. Wo es genau kracht, ist wohl ohnehin nur für die Umstehenden erkennbar sein. Was soll dann passieren? Sollen Polizei und Ordner:innen tatsächlich den Auswärts-Sektor in Hütteldorf stürmen, wo zu dem Zeitpunkt dichtgedrängt rund 2300 Austria-Fans stehen? Oder den “Away” im Horr-Stadion der Austria mit bis zu 2800 Fans? Samt Massenpanik? Das kann niemand wollen, der bei klarem Verstand ist.

Und dann gäbe es noch eine dritte Schein-Lösung: Fußball nur noch für Wohlhabende, so wie in England. Die Ticketpreise werden so hinaufgeschnalzt, dass sich große Teile der Bevölkerung den Eintritt einfach nicht mehr leisten können. Die Folge: Kaum mehr Stimmung in den Stadien. Die Gewalt aber verhindert auch das selbstverständlich nicht: Die verlagert sich in einfach nur in untere Ligen oder auf die Straße.

Nur die Fanszenen können es lösen!

Eine echte Lösung gibt es damit nur in Zusammenarbeit mit den Fanszenen. Das bedeutet aber auch, dass die Szenen in der Pflicht sind. Ein äußerst wichtiger Schritt wäre, wenn sie die enorme Gefährdung durch Böller endlich aus den Kurven verbannen. Bei Rapid hält diese Ächtung schon länger. Und bei der Austria soll sie künftig wieder durchgesetzt werden: In ihrem Statement nach dem Derby kündigt die aktive Szene der Austria an, dass es künftig sogar “stichprobenartige Kontrollen” durch die Fans geben werde.

Ebenso unbedingt notwendig: Kein Bengalo darf jemals auf Menschen oder in volle Sektoren geworfen werden. Das ist lebensgefährlich. Auch das müssen die Szenen unterbinden. Übrigens schon im ureigensten Interesse: Es ist völlig irreal, einerseits legale Pyrotechnik zu fordern – und gleichzeitig diese Pyro als gefährliche Waffe einzusetzen. Denn diese Pyrotechnik ist dann eben sehr wohl ein Verbrechen.

Und schließlich: Wer sich unbedingt auf die Pfeife hauen will, soll sich privat verabreden. Ich bin nicht nur Journalist, sondern auch Bewährungshelfer und erlaube mir daher an dieser Stelle den Hinweis: Schlau ist das nicht. Schon bei einem unglücklichen Sturz können die Folgen lebensgefährlich sein. Und dann drohen hohe Strafen. Doch zumindest Unbeteiligte dürfen niemals zu Schaden kommen.

Nur die Fanszenen können das in den Kurven durchsetzen. Es ist höchste Zeit. Im Interesse des Fußballs und im Interesse der Fans.

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