Wer ist verantwortlich für die Probleme, hat Wien Energie spekuliert – und was muss jetzt passieren? Das sind die wichtigsten Fragen und Antworten.
Die Nachricht hat eingeschlagen wie eine Bombe. Die Wien Energie, der größte Energieanbieter des Landes, stand offenbar kurz vor der Zahlungsunfähigkeit.
Wie konnte das passieren?
Was die Wien Energie gemacht hat, ist eigentlich in der kapitalistischen Markt-Logik der heutigen Stromwirtschaft nicht unüblich. Viele Energie-Anbieter sichern ihre Versorgung mit einem sogenannten Termingeschäft ab. Das ist ein Verkauf in der Zukunft.
Der Bedarf an Strom ist Schwankungen ausgesetzt, die ständig ausgeglichen werden müssen, dies geschieht häufig über den Markt. Die Wien Energie beispielsweise hat im Sommer zu wenig und im Winter zu viel Strom. Unternehmen kaufen meist rollierend auf den Börsen zu, zum Beispiel heute für das nächste Monat, das nächste Quartal, für 2023 oder sogar für 2024. Dabei gibt es grundsätzlich zwei Strategien: Jetzt zu viel kaufen, um dann zu verkaufen. Oder jetzt zu wenig kaufen und dann nachkaufen.
Die Idee hinter diesen langfristigen Ankäufen: So haben die Energie-Versorger Planungssicherheit und können damit auch die Strompreise garantieren, die in den Verträgen mit den Kund*innen vereinbart sind. Vor allem Strom lässt sich sehr schlecht speichern – damit aber wird mit Energie gehandelt, die noch gar nicht produziert wurde.
Warum braucht Wien Energie jetzt Geld?
Wenn jetzt aber der Marktpreis höher steigt als jener Preis, der im Termingeschäft vereinbart worden ist, muss der jeweilige Energieanbieter Sicherheiten bieten, sogenannte Margin-Calls („Margen-Aufrufe“). Das Geld ist damit nicht automatisch verloren, es dient als Besicherung. Je höher der Preis steigt, desto mehr Sicherheiten sind notwendig – und das wird jetzt gerade der Wien Energie zum Verhängnis.
Der Wiener Finanzstadtrat Peter Hanke (SPÖ) sagt in einem Interview mit dem Standard, dass es dazu ein weiteres Problem gegeben hätte: „Das Problem an dem Tag war ja nicht nur der hohe Strompreis, sondern, dass der Gaspreis an dem Tag nicht im selben Ausmaß mitgestiegen ist. Sehr untypisch. Das hat die Lage kurzfristig noch mehr verschärft, weil die Stadt kauft Gas und verkauft Strom – dadurch war der Gap besonders groß.“
Wie viel Geld benötigt Wien Energie?
Das ist aktuell völlig unklar. So hatte es zuerst am Montag in einem von Finanzstadtrat Hanke an Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) geheißen, dass Wien Energie bis Dienstag um zwölf Uhr eine Kreditlinie von zwei Milliarden Euro brauchen würde. Insgesamt sei laut dem Brief sogar eine Kreditlinie von 6 Milliarden notwendig. Das berichtet heute.at.
Am Montagabend sagte Hanke dann gegenüber der ZIB2 und Puls24, dass es doch keine Zwei-Milliarden-Lücke gegen würde. Im Gegenteil gäbe es sogar einen positiven Saldo von 400 bis 700 Millionen Euro.
Diese kurzfristigen Absurditäten des kapitalistischen Marktes machen auch jede langfristige Voraussage unmöglich. Wie die Geschichte für Wien Energie schlussendlich finanziell ausgeht, ist damit völlig offen, wie Walter Boltz, Ex-Vorstand der E-Control, am 29. August in der ZIB Nacht sagt.
Boltz, der aktuell die grüne Energieministerin Leonore Gewessler berät, meint: Wien Energie hätte sich „zu einer gewissen Beschaffungsstrategie und Strategie der Absicherung gegen Preisveränderungen entschlossen“. Diese Strategie hätte sich nachträglich als „nicht so erfolgreich herausgestellt“. Es wäre heute aber noch nicht klar, ob diese Strategie nachhaltig wirtschaftlich sein werde oder Verluste bringen würde, das würde „von den Preisbewegungen der nächsten 12 Monate abhängen“.
Hat Wien Energie spekuliert?
Auch das wissen wir nicht. Die politische Debatte wird sich wohl darum drehen, was als Spekulation zu verstehen ist. Grundsätzlich ist natürlich jedes Termingeschäft in die Zukunft spekulativ, weil wir ja nicht wissen, was die Zukunft bringt – wie wir jetzt brutal sehen.
Die Stadt Wien sagt, ein Spekulationsverbot sei in den „Risikohandbüchern dezidiert festgehalten“. Dass Wien Energie klassisch spekuliert hat, glaubt Ex-E-Control-Vorstand Boltz eher nicht: „Nach meinem Wissensstand hat es jetzt Spekulation in dem Sinn, wie man das in der Öffentlichkeit diskutiert, nicht gegeben“.
Der linke Ökonom Stephan Schulmeister dagegen schreibt auf Twitter: „Es handelt sich um reine Finanzinstrumente für Hedging oder Spekulation. (…) Der Finanzierungsbedarf der WE liegt bei dem 3-fachen des Jahresumsatzes, diese Dimensionen sind unfassbar, bitte Karten auf den Tisch!“
Dann hat Wien Energie ja nichts falsch gemacht, oder?
Das ist nicht so eindeutig. Es scheint jedenfalls so zu sein, dass sich Wien Energie deutlich überhoben hat. Die Wien Energie hätte „ein Risiko in Kauf genommen“, in der Hoffnung, finanzielle Vorteile für die Kund*innen der Wien Energie zu bekommen, sagt Boltz gegenüber Ö1. Doch das dabei eingegangene Risiko sei deutlich zu hoch gewesen sei. Die eingesetzte Summe sei „einfach zu groß“ gewesen.
„Normal waren die Geschäfte nicht“, so Boltz. So ähnlich argumentieren mir gegenüber auch verschiedene Energie-Expert*innen. „Der Wien Energie sind die Geschäfte über den Kopf gewachsen. Die wissen vermutlich aktuell selbst nicht so genau, was da schiefgegangen ist“, sagt mir ein Experte, der nicht namentlich genannt werden will.
Zuerst sei es vermutlich mit kleineren Summen gut gegangen, dann sei mit immer höheren Beträgen hantiert worden. Auffallend ist jedenfalls das Volumen der Geschäfte von Wien Energie.
Der Konzern produziert in seinen eigenen Kraftwerken jährlich rund sechs Terawattstunden (TWh). An der Börse wurden jetzt aber anscheinend bis zu 18 Terawattstunden verkauft, schreibt der Standard. Die Stadt Wien sagt, diese Zahl würde auch „konzerninterne Lieferungen“ beinhalten. Gegenüber dem Standard sagt ein Insider: Zehn TWh seien „nicht überraschend“, 18 TWh aber schon „viel“ und erklärungsbedürftig.
Ist Wien Energie anders aufgestellt als andere Anbieter?
Ja. Eine Besonderheit bei Wien Energie im Gegensatz zu vielen anderen österreichischen Energie-Versorgern: Die Wien Energie selbst erzeugt selbst kaum Energie – und was erzeugt wird, kommt meist aus teuren Gaskraftwerken. Andere Anbieter wie etwa der Verbund oder die Landesgesellschaften im Westen produzieren dagegen selbst billige Wasserkraft.
Damit kann der Stadt-Konzern im Gegensatz zu anderen Anbietern nicht selbst Energie teuer an den Börsen anbieten und sich damit absichern. Doch es ist völlig unklar, ob andere österreichische Energie-Anbieter auf Sicht nicht das gleiche Problem haben werden. Das könnte vor allem andere Stadt-Anbieter treffen, die ebenfalls kaum selbst Energie produzieren.
Haben andere Energie-Anbieter das gleiche Problem?
Das wissen wir nicht. Aktuell haben – nach eigenen Angaben – andere Anbieter noch keine Engpässe bei der Finanzierung. Wie es intern aussieht, ist unklar. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner behauptet im ORF-Sommergespräch, sie wisse von anderen Anbietern mit ähnlichen Problemen. Auf Nachfrage wird sie aber nicht konkret. Und Barbara Brunner, Generalsekretärin der Generalsekretärin des Branchenverbands „Oesterreichs Energie“ fordert am Dienstag gegenüber Ö1 eine Art Schutzschirm für alle Energieversorger.
Damit es nicht „zu Liquiditätsengpässen kommt“, wäre es „jetzt wichtig“, dass der Gesetzgeber „eine Vorkehrung trifft“, damit die Energieversorger liquide bleiben, so Brunner. Etwas Ähnliches gibt es bereits in Deutschland. Auch die oberösterreichische Energie AG wünscht sich in einer Stellungnahme auf Ö1 ein Sicherheitsnetz: Die Situation im energiewirtschaftlichen Gesamtsystem sei „sehr angespannt“.
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Das klingt eher nicht danach, dass überall alles rosig ist. Es kann also sein, dass andere Anbieter sich derzeit ducken und hoffen, dass am Beispiel Wien Energie auch ihre Probleme gelöst werden. Ein Insider sagt mir jedenfalls: „Wenn die Preise weiter steigen, werden recht schnell auch andere Anbieter in Schwierigkeiten geraten.“
Hätte ein Schutzschirm der Wien Energie geholfen?
Das ist unklar. ÖVP-Finanzminister Magnus Brunner sagt in einer Pressekonferenz am Dienstagvormittag, dass ein Schutzschirm der Wien Energie nicht geholfen hätte. Begründung: Spekulationen seien unter einem Schutzschirm nicht möglich.
Wiens Finanzstadtrat Hanke und die Stadt dagegen sagen, die Wien Energie hätte nicht spekuliert. Nachdem wir aber die Art der Handelsgeschäfte von Wien Energie derzeit nicht kennen, gibt es darauf keine Antwort. Und es würde natürlich auch darauf ankommen, wie der Schutzschirm ausgesehen hätte.
Warum ist Wien Energie mit dem Problem nicht schon viel früher in die Öffentlichkeit gegangen?
Das ist unklar und war taktisch wohl enorm ungeschickt. Denn das Problem müsste der Wien Energie eigentlich schon länger klar sein. Das sagt auch Walter Boltz in der ZIB Nacht: Liquiditätsprobleme seien zwar „nicht überraschend“, das würde derzeit sehr viele Unternehmen in Europa treffen, die viel Energie einkaufen müssen.
Doch die Preise seien bereits „seit gut drei bis vier Wochen sehr hoch mit steigender Tendenz“, die aktuellen Steigerungen seien somit erwartbar gewesen. Es sei somit „sehr überraschend“, dass Wien Energie sich nicht rechtzeitig eingedeckt habe.
Boltz ergänzt auf Ö1: Wäre die Entwicklung aufgrund der Marktgegebenheiten unvermeidlich gewesen, „müssten ja jetzt reihenweise Elektrizitäts- und Gasunternehmen in Europa den Bach hinuntergehen“. Das passiert aber nicht, Wien Energie hat also möglicherweise sehr wohl hausgemachte Probleme.
War das politisch klug von der Wiener SPÖ?
Das sieht eher nicht so aus. Wenn Wien vor einem Monat einen Schutzschirm für Energieversorger gefordert hätte und jetzt offensiv mit dem Problem in die Öffentlichkeit gegangen wäre – es hätte sich wohl eher die Regierung rechtfertigen müssen, falls sie den Schutzschirm nach deutschem Vorbild nicht gespannt hätte.
Warum das nicht gemacht wurde, ist völlig unklar. Möglicherweise ist es ein völliges taktisches Versagen. Möglicherweise liegen doch Leichen im Keller.
Was bedeutet das für Kund*innen von Wien Energie?
Real aktuell wohl gar nichts. Der Bund wird mit einer Kreditlinie einspringen und die Energieversorgung wird gesichert bleiben. Doch wenn politisch nichts passiert, werden sich – völlig unabhängig von den aktuellen Ereignissen – die Kund*innen von Wien Energie auf noch höhere Energie-Preise einstellen müssen.
Was ist das wirkliche Problem?
Der Energiemarkt ist liberalisiert, Strom und Gas werden spekulativ an Börsen gehandelt. Wien Energie bewegt sich innerhalb dieser Logik. Ob Wien Energie dabei spekulative Grenzen überschritten hat, wissen wir heute noch nicht. Doch das tatsächliche Problem liegt tiefer.
Energie gehört zur grundsätzlichen Daseinsvorsorge, genauso wie der öffentliche Verkehr, die Wasserversorgung oder die Müllabfuhr. Auch Wohnen oder Grundnahrungsmittel sollten dazu gerechnet werden. Hier geht es um die grundlegendsten Dinge, um ein Leben in Würde zu sichern.
Marktmechanismen haben in der Daseinsvorsorge nichts verloren. Die aktuelle Entwicklung zeigt auch, dass der kapitalistische Markt, der angeblich alles regelt, vor allem alles für die Spekulant*innen regelt. Insbesondere der Gaspreis schnellt derzeit nicht deshalb nach oben, weil es tatsächlich so viel weniger Gas gibt. Sondern weil Handelsunternehmen auf eine Verknappung und damit auf noch höhere Gaspreise spekulieren.
Was müsste also gemacht werden?
Energie ist eine grundsätzliche Ressource, die alle Menschen brauchen. Damit hat Energie an der Börse nicht verloren. Einen gewissen Handel zwischen den Energieerzeugern muss es geben, um jeweilige Bedarfsspitzen untereinander auszugleichen. Doch spekulativer Handel, vor allem durch Zwischenhändler, muss unterbunden werden.
Ein Preisdeckel ist notwendig. Energieanbieter haben in privaten Profithänden nichts verloren. Und schließlich muss Energie durch die öffentliche Hand organisiert, geregelt und verteilt werden.
Dieser Artikel wird laufend aktualisiert.
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